Das Evangelium der Aale

Patrik Svensson: Das Evangelium der Aale

Auf Meertext stelle ich manchmal ausgewählte Bücher vor, deren Themen mich besonders reizen. Patrik Svenssons “Das Evangelium der Aale” ist so eines!
Schon im letzten Jahr erschienen, wollte ich es eigentlich vor Weihnachten noch schnell durchlesen und dann im Adventskalender bringen. Das hat dann leider nicht geklappt.
Aber hier kommt es nun – der Aal ist nämlich ein ganz besonderer Fisch, an den ich einige sehr persönliche Erinnerungen habe.

Der Aal (Anguilla anguilla) ist schon äußerlich ein ungewöhnlicher Fisch: Mit seinem langgezogenen Körper ohne sichtbare Schuppen windet er sich schlangenartig durchs Wasser. Die schmalen Flossensäume an Bauch und Rücken sind kaum sichtbar, die Brustflossen nur winzig – das verstärkt den Eindruck einer Wasserschlange. Das Maul voller kleiner spitzer Zähne ernährt er sich angeblich überwiegend von Leichen, das macht ihn unheimlich. Ganz unfischartig verläßt er manchmal das Wasser und schlängelt sich außerhalb des Wassers einfach über feuchte Wiesen, für seinen Sauerstoffbedarf reicht ihm dann die Hautatmung. Die Fortpflanzung des vom Aussterben bedrohten Fisches ist bis heute nicht ganz geklärt.
Diesen ungewöhnlichen, unheimlichen und geheimnisvollen Fisch stellt Patrik Svensson in seinem Buch “Evangelium der Aale” vor.

Vor dem Bilderbogen Aal erzählt er auf verschiedenen Ebenen mehrere Geschichten: Die persönliche Beziehung zu seinem Vater, mit dem er einst Aale angeln ging. Die Wissenschaftsgeschichte über mehr als 2000 Jahre hinweg mit ihren Rätseln und Meilensteinen in der Aal-Forschung. Naturphilosophie und Philosophie zum Mysterium und den Metamorphosen des seltsamen Fisches. Anekdoten stellen die historische Aalfischerei genauso vor wie die Leiden des jungen Sigmund Freud, der einst am Mittelmeer im Auftrag seines Zoologie-Professors besonders große Aale sezieren musste, auf der Suche nach ihren Geschlechtsorganen. Svensson stellt Forscher vor, die Jahrzehnte ihres Lebens dem Mysterium der Aal-Fortpflanzung gewidmet haben. Rachel Carson findet ihren Platz mit ihrer Aalgeschichte, mit der sie das Nature Writing begründet hat, eine poetischere, weniger anthropozentrische Betrachtung der Natur. Schließlich verwebt er das Bild seines sterbenden Vaters, der als Folge seiner Arbeit im Straßenbau mit heißem Asphalt einen Tumor bekommt, mit der Bedrohung des Aals in unserer Zeit. Überhaupt geht es sehr viel ums Bemühen und Scheitern, Sterben, Wiederauferstehen und Weiterleben.

Lebenslauf der AaleÜberblick zum seltsamen Aal-Lebenszyklus
Aale (Anguilla anguilla) existieren in unseren Flüssen, Seen und Teichen scheinbar geschlechtslos: die erwachsenen Fische entwickeln keine Geschlechtsorgane, sie paaren sich nicht und es gibt auch keine Spuren ihrer Fortpflanzung wie Eier und Larven.
Geschlechtsreife Aale ziehen aus den Flüssen ins Meer – sie sind katadrome  Wanderfische – , ihre Spur verliert sich in der  sagenumwobenen Sargasso-See. Bis heute hat niemand sie je bei der Paarung oder beim Ablaichen beobachtet. Da aber im Bereich der Sargasso-See die kleinsten Larven zu finden sind, müssen diese dort irgendwo auch schlüpfen. Aufgrund ihrer Form heißen sie Weidenblatt-Larven oder Leptocephalus-Larven. Wie alle Fischlarven sind sie transparent, eine Tarnfarbe im Plankton, wo sie ihren ersten Lebensabschnitt verbringen. Nach der Metamorphose haben sie bereits die schlangenartige Figur der Erwachsenen, sind aber noch weißlich – dieses Stadium heißt Glasaal. Diese nur wenige Zentimeter kleinen Fischlein wandern aus dem Atlantik in die Flussmündungen Europas. Dass sie u. a. in Spanien als Delikatesse gelten und dort gleich beim Ankommen in den Flußmündungen massenhaft gefangen werden, bekommt den Beständen nicht gut.
Die Überlebenden werden zum sogenannten Gelbaal, mit gelblichem Bauch. Mit 6 bis 9 Jahren werden Männchen und mit 12 bis 15 Jahren Weibchen geschlechtsreif – Aale machen dann eine erneute starke Umwandlung durch: der After schließt sich, sie fressen nicht mehr, stattdessen bilden sich allmählich die Geschlechtsorgane heraus, die dann schließlich die ganze Leibeshöhle ausfüllen. Mit diesem Handicap müssen die Fische noch die kraftzehrende lange Reise überleben. Darum haben dafür vorher große Fett-Reserven angesammelt – Aale sind Fettfische und können zu bis zu 30 % aus Fett bestehen.
Diese Blankaale haben dann einen weißlich-silbrig schimmernden Bauch und einen dunkleren Rücken, die übliche Tarnfärbung im Meer. Dort wandern sie langsam in Richtung der Bahamas. Ihre Hochzeitsreise ist eine Reise ohne Wiederkehr: Nach der Paarung und dem Ablaichen sterben sie.
Ihre lange Wanderung zur Fortpflanzung bis in die Tiefen der Sargasso-See ist ein Mysterium, das bis heute nicht vollständig aufgeklärt ist.

Die Aal-Erforschungsgeschichte
Vor über 2000 Jahren kam der Naturphilosoph Aristoteles nach einer Sektion eines Aals, bei der er weder Fortpflanzungsorgane noch Eier fand, zu dem Ergebnis, dass dieser Fisch ein Rätsel sei. So signifikant unterscheidet sich der schlangenförmige Flossenträger von anderen Arten, dass Homer ihn zu den Amphibien, statt zu den Fischen rechnete. Anguilla ist also seit über 2000 Jahren Gegenstand reger wissenschaftlicher Diskussionen.

So gab es reichlich Theorien zu seiner Fortpflanzung bzw. Entstehung: Kleine Aale sollten aus dem Schlamm der Flüsse entstehen, oder junge Aale entstehen ohne Befruchtung in älteren Exemplaren. Im Mittelalter waren die beiden Annahmen populär, der Aal sei lebendgebärend oder ein Hermaphrodit. Kein Wunder, dass er in historischen Zeiten eng verknüpft war mit der Urzeugung.
1777 landete  ein großer Aal auf dem Seziertisch des Anatomen Carlo Mondini der Universität Bologna – bei der Sektion  fand Mondini  im Innern die reifen Fortpflanzungsorgane eines Weibchens mit Eiern! Damit konnte er beweisen, dass auch diese Fische zwei  Geschlechter ausbilden und Eier ablaichen.
Allerdings bezweifelten viele Anatomen Mondinis Ergebnisse, denn es stellte sich als schwierig heraus, diese Beobachtung zu wiederholen: Es fanden sich einfach keine weiteren Aale mit voll ausgebildeten Geschlechtsorganen und Eiern. Erst 1824 entdeckte der deutsche Anatomie-Professor Martin Rathke wieder ein Aal-Weibchen mit sichtbar ausgebildetem Fortpflanzungsorgan, 1850 fand er eine Aalin mit Eiern im Leib. Damit bestätigte er Mondinis Beobachtung. Allerdings fehlte immer noch der Nachweis eines Männchens, sodass viele Wissenschaftler diese Art immer noch für hermaphroditisch hielten.
1874 fand ein polnischer Zoologe während eines Aufenthalts am Naturhistorischen Museum in Triest ein kleines zipfelförmiges Organ, das er für die männlichen Fortpflanzungsorgane des schlangenförmigen Fisches hielt. Allerdings war die Beschreibung des offenbar noch nicht voll ausgebildeten Organs zu vage und es fand sich kein Beweis für die Produktion von Samenflüssigkeit. Darum akzeptierte die wissenschaftliche Community diese Beobachtung nicht als Nachweis für die Existenz von Aalmännchen.

Leptocephalus larva of a conger eel 7.6 cm (Photo by Uwe Kils)

Leptocephalus larva of a conger eel 7.6 cm (Photo by Uwe Kils) (Wikipedia)

Im März 1876 schickte der Wiener Zoologe Carl Claus einen seiner Studenten von der Universität in Wien zur Forschungsstation nach Triest: den jungen Sigmund Freud, der neben Psychologie auch Zoologie studierte und bei eben diesem Claus Kurse belegt hatte. Sein Arbeitsauftrag: einen Aal mit männlichen Geschlechtsorganen zu finden! Einen Monat lang lieferten täglich Fischer frische Aale ab, die der Student sezieren musste. Vergeblich. Freud scheiterte an der Sexualität der Aale. (Svenssons Gedanken, inwieweit diese Erfahrung und die besessene Suche nach dem männlichen Geschlecht Freuds spätere Karriere beeinflusst haben mag, war für mich eines der unterhaltsamsten Kapitel).
In den 1890-ern hatte der dänische Meeresbiologe C. G. Johannes Petersen die letzte Umwandlung der Aale im Meer beobachtet: Er beschrieb die Umformung von Gelbaalen in Blankaale und stellte daraufhin die Hypothese auf, dass diese Fische sich im Meer fortpflanzen müssen. Petersen  beschrieb detailliert, wie die Verdauungsorgane des Blankaals schrumpfen und er aufhört zu fressen, wie er Geschlechtsorgane entwickelt und sich Flossen und Augen verändern. Ganz offensichtlich bereitet sich der Fisch also auf seine Fortpflanzung und die damit verbundene lange Reise vor. Diese Erkenntnisse passten auch zu der Beobachtung, dass die kleinen Glasaale im Frühling aus dem Meer kommend die Flüsse hinaufwandern.

1896 konnten die italienischen Wissenschaftler Grassi und sein Student Calandruccio die erste Metamorphose einer Weidenblatt-Larve in ein Glasälchen beschreiben: Im Mittelmeer hatten sie das weidenblattähnliche Wesen namens Leptocephalus brevirostris gefangen. Vor ihren Augen  verwandelte sich Leptocephalus im Aquarium in Anguilla! Das durchsichtige länglich-ovale Blättchen war offenbar das erste Stadium des europäischen Aals Anguilla anguilla. Bis dahin galten beide Organismen als jeweils eine eigenständige Art, darum war auch diese Beobachtung eine große Entdeckung. Grassi publizierte die Sensation, postulierte dabei aber fälschlich, dass diese Larve in den Tiefen des Mittelmeeres entstanden sein müsse.
Anfang des 20. Jahrhunderts war damit also geklärt, dass der Gelbaal sich in den geschlechtsreifen Blankaal verwandelt, der dann im Herbst ins Meer zieht. Außerdem wusste man, dass er nicht wieder zurückkehrt. Aus den Leptocephalus-Larven entstanden kleine Glasaale, die im Frühjahr an den europäischen Küsten auftauchten und die Flüsse hinauf schwammen.

Die weite Wanderung der Aale in die Sargasso-See
Aber wie ging es mit den ausgewachsenen Fischen weiter, die ins Meer hinausgezogen – wo und wann vermehren sie sich und wo starben sie?
1904 beschloß der junge dänische Biologe Johannes Schmidt, dieser Frage nachzugehen. 1904 fing er eine kleine Weidenblatt-Larve westlich der Färöer-Inseln – die erste Aal-Larve  außerhalb des Mittelmeeres! Da das transparente Fischlein mit siebeneinhalb Zentimetern bereits relativ groß war, ging Schmidt davon aus, dass sie irgendwo im offenen Meer geschlüpft sein müsse. Er fischte also um die Färöer-Inseln und vor Dänemark nach den Entwicklungsstadien der Aale. Überall fand er die weidenblattförmigen Fisch-Larven, genauso groß wie die erste. Aber keine kleineren Stadien. Erst bei einer systematischen Suche von den Färöern bis zu den Azoren, dann nach Neufundland, und von dort aus südwärts zu den Westindischen Inseln, wurde er fündig:  Die Anzahl des Anguilaa-Nachwuchses stieg, je weiter er nach Westen vordrang, außerdem wurden sie dabei zunehmend kleiner.
Dabei entdeckte er, dass die Larven zu unterschiedlichen Arten gehören: dem Europäischen und dem Amerikanischen Aal (Anguilla rostrata). Außerdem schien ihre Verbreitung im Zusammenhang mit den großen Meeresströmungen zu stehen. 1923 konnte er schließlich einen ausführlichen Bericht in den Philosophical Transactions of the Royal Society of London schreiben: Das Fortpflanzungsgebiet der Aale war die Sargassosee.

Der deutsche Fischereibiologe Friedrich-Wilhelm Tesch hatte in den 1970-er Jahren das Standardwerk „Der Aal“ publiziert, der Forscher der Biologischen Anstalt Helgoland (BAH) hatte sein Forscherleben dem schlängelnden Geheimnisträger gewidmet. Tesch hat u. a. den hervorragenden Geruchssinn des Aals erforscht – ein Tropfen Rosenextrakt im Bodensee würde der Fisch noch wahrnehmen. Vermutlich orientieren sich die Meereswesen auf ihrem langen Weg in die Sargassosee also an Gerüchen, außerdem an Temperatur und Salzgehalt sowie dem Erdmagnetfeld.
Tesch leitete 1979 mit den beiden BAH-Forschungsschiffen  „Anton Dohrn“ und „Friedrich Heincke“ eine große Expedition in die Sargasso-See, die der Größe des Aal-Mysteriums und seiner wirtschaftlichen und volkskundlichen Bedeutung gerecht wurde. Das gesamte Frühjahr über fuhren die beiden Schiffe systematisch Transekte über den mutmaßlichen Laichort der Aale. Dabei setzten die Fischereibiologen ein ganzes Arsenal verschiedener Netze aus, um große, kleine und kleinste Fische sowie Eier zu fangen. So gelang den Forschern der Fang einer Menge von Weidenblatt-Larven, allerdings fischten sie weder einen erwachsenen Aal noch Eier aus dem Meer. Also wieder eine präzise Ortsbestimmung und Indizien, aber wieder kein direkter Nachweis für verliebte Fische oder ihren Laich (The Sargasso Sea Eel Expedition 1979 F.-W. Tesch, HELGOLÄNDER MEERESUNTERSUCHUNGEN Helgoländer Meeresunters. 35, 263-277 (1982)).

Der US-amerikanische Aal-Experte James McCleave hatte 1974 erstmals die Sargasso-See erforscht, an der Seite des erfahrenen Friedrich-Wilhelm Tesch.
Bei seiner ersten eigenen Expedition nutzte der Amerikaner zum Fische-Aufspüren die modernen Akustik-Methoden. Mit dem Fisch-Echolot ortete er die im Meer ziehenden Aale (McCleave, J., Harden-Jones, F.:“Eels: new interest in an old problem“. Nature 278, 782–783 (1979). Jedes Mal probierte er Methoden auf dem neuesten technischen Stand aus, u. a. das Fisch-Echolot, das Fischschwärme tief unten im Ozean sichtbar macht. McCleave hatte die jüngsten Aal-Larven an den Grenzschichten von Wassermassen unterschiedlicher Temperaturen gefunden und suchte darum dort nach dem Laichplatz. Diese Grenzbereiche zwischen verschiedenen Wasserkörpern sind besonders hoch produktive Areale im Meer, darum sind sie nicht nur bei Fischen sondern auch bei Fischern beliebt. Das Fisch-Echolot ortete auch tatsächlich Fischschwärme, die höchstwahrscheinlich Aale waren, allerdings konnten die Biologen wieder keinen ausgewachsenen Aal erwischen. Während einer späteren Expedition versuchte McCleave mit seiner Kollegin Gail Wippelhauser noch den Pheromon-Trick zum Anlocken von Männchen. Diese chemische Masche mit weiblichen Sexuallockstoffen ist in der Biologie sehr verbreitet und funktioniert normalerweise zuverlässig. McCleave und Wippelhauser hatten also 100 ausgewachsene amerikanische Aal-Weibchen vor ihrer heimischen Küste gefangen und ihnen Hormone gespritzt, so sollten sie künstlich geschlechtsreif werden. Aber auch das ging schief, die meisten Tiere starben, bevor sie am Einsatzort ankamen und auch die restlichen verschwanden ergebnislos.

Ebenso wie weitere Verfolgungsjagden mit gefangenen und besenderten Aalen. Nicht nur die Europäischen und Amerikanischen, sondern auch die Japanischen Aale entzogen sich immer wieder den Nachstellungen der Menschen.
Der japanische Biologe und Aal-Experte Katsumi Tsukamoto fand 1991 einige Weidenblatt-Larven des japanischen Aals Anguilla japonica, die erst wenige Tage oder Stunden alt waren, weit draußen im Pazifik, westlich der Marianen-Inseln. Im Herbst 2008 fingen Forscher des japanischen Atmosphere and Ocean Research Institute in Tokio genau dort auch drei erwachsene Exemplare, ein Männchen und zwei Weibchen, die aber nach dem Ablaichen schon im Sterben lagen.
Auch mit der Aquakultur klappte es nicht: Japanischen Wissenschaftlern gelang es zwar, einer geschlechtsreifen Aalin Eier zu entnehmen, diese künstlich zu befruchten und dann auch noch die Weidenblatt-Larven schlüpfen zu lassen. Leider lebten die Larven nicht lange, sie verweigerten einfach die Nahrungsaufnahme. Nach 30 Jahren (!) fanden die japanischen Fischereibiologe endlich etwas, was den Fisch-Kindern schmeckte: ein Pulver aus gefriergetrockneten Hai-Eiern. Mit dieser besonderen Babynahrung konnten sie einige Larven aufpäppeln. Aber bis heute gelingt es nicht, eine Aalzucht zu betreiben – die meisten Fischlein sterben noch als Larven, wenige werden Glasaale und noch weniger erwachsen.

(Genauso wenig wie in Europa, wie die Forschungen des Thünen-Instituts gezeigt haben.)

Heute sind Europäische Aale als Art vom Aussterben bedroht durch
– die Überfischung der Glasaale
– verbaute Flüsse, die Wanderrouten blockieren oder gefährlich machen
– Wasserverschmutzung mit ihrem toxischen Mix
– Parasitierung durch Einschleppung neuer Parasiten an Bord invasiver Arten wie der Schwarzmundgrundel mit ihrem trojanischen Schwimmblasen-Parasiten.

Die letzten Geheimnisse, wie genau ein Aal aus einem kleinen europäischen Gewässer zurück zu seinem Geburtstort mitten im Atlantik findet, sind bis heute nicht geklärt.
Leider besteht eine realistische Möglichkeit, dass diese auch kulturgeschichtlich so wichtige Art noch vor dem Lüften ihrer letzten Geheimnisse ausgerottte ist.

Meine Meinung zum Buch: Aal-Poesie
Mir gefällt das Verweben von Naturgeschichte, Naturphilosophie, Historie und Biographischem sehr gut und Fische mag ich ja ohnehin gern. Dass ich während meiner Arbeit Dr. Friedrich-Wilhelm Tesch als “Vater der Aale” persönlich kennengelernt habe, machte dieses Fisch-Evangelium für mich noch reizvoller. Und wie Larsson verursacht auch mir der fette und leicht wilde Geschmack Übelkeit. Außerdem liebe ich mysteriöse Tier-Rätsel seit meiner Kindheit, genauso wie Geschichten über die Sargasso-See.

Die verschiedenen Ebenen machen es zu einer abwechslungsreichen Lektüre, voller persönlicher, sachlicher und philosophischer Miniaturgeschichten. Für meinen Geschmack wabert der Text manchmal zu sehr ins Philosophische hinein, einige Male verlor ich den Bezug zur eigentlichen Aalgeschichte. Gerade das Thema der Metamorphosen war mir an einigen Stellen zu bemüht und zu langatmig. Das Thema des Todes – des sterbenden Vaters und des aussterbenden Aals – mäandriert zu stark zwischen existenzialistisch und küchenphilosophisch banal.

Es endet dann recht düster: Schließlich sind Aale vom Aussterben bedroht. Wahrscheinlich müssen wegen des finster dräuenden Artensterbens die meisten Bücher über Tierarten zu einem bösen Ende kommen. In diesem Fall kommt dann noch das Dahinsiechen des Vaters dazu, Svensson scheint mit dem Aal-Schicksal den Tod seines Vaters zu verarbeiten. Ich finde, dass der Spagat zwischen Naturwissenschaft bis zu sehr persönlichen Gedanken nicht immer ganz gelungen ist.

Manch andere Geschichte zur Aal-Forschung und Ozeanographie hätte ich lieber wesentlich ausführlicher gehabt. Kein Wunder, schließlich bin ich Biologin. Patrik Svensson hingegen hat Sprachen studiert und schreibt streckenweise wirklich poetisch. Diese Natur-Poesie stellt er im mit der „Mutter des Nature Writing“ Rachel Carson auch explizit vor. Carson hatte die Anguilla- Wanderung in die Sargasso-See in ihrem ikonischen Werk „Unter dem Meerwind“ aus der Perspektive eines Aalweibchens beschrieben, das von einer unerklärlichen Sehnsucht angetrieben wird.

Der aalbegeisterte Poet Svensson nutzt die Macht der Worte, um auf die derzeitige katastrophale Situation des Artensterbens und der Öko- und Klimakrise aufmerksam zu machen und rüttelt damit auf. Vielleicht auch Lesende, die bisher weder den Aal sympathisch fanden noch ein Herz für schlüpfrige Fische und den Rest der Tierwelt hatten. Jedenfalls schreiben das einige Rezensenten.
Die Natur-Poesie eröffnet zusätzliche Perspektiven auf Sachinhalte und findet eine andere Sprache dafür. Damit treten Artensterben, Öko- und Klimakrise aus der naturwissenschaftlichen Sachbuch-Ecke auf die viel größere Bühne des Literaturbetriebs. Nur dass in diesem Fall nicht immer ein Mensch Erzählender und Hauptfigur ist, sondern andere Lebewesen, ob Aal, Baum oder Pilz, diese Stellen einnehmen.

Gerade deshalb ist „Evangelium der Aale“ trotz einiger Schwächen auf jeden Fall unbedingt lesenswert!

„Das Evangelium der Aale“ ist 2020 im Carl Hanser-Verlag erschienen und kostet 22,00 €

Hier bietet der Hanser-Verlag bietet dabei auch noch weitere Infos wie ein Interview mit Patrik Svensson und eine Leseprobe.

Hier sind weitere Rezensionen zum Evangelium der Aale.


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Kommentare (7)

  1. #1 Roman Handl
    St. Gallen
    11. März 2021

    Passend zu Ihrer sehr lesenswerten Zusammenfassung und Rezension eines Buches, das ich auch nur empfehlen kann.
    https://mission-blue.org/2021/03/saving-the-sargasso-sea-the-golden-floating-rainforest-of-the-atlantic/

  2. #2 Bettina Wurche
    11. März 2021

    @RomanHandl: danke für den Tipp – da muss ich unbedingt mal stöbern

  3. #3 Alisier
    13. März 2021

    Abgesehen davon, dass ich Deine Blogpots immer noch ausgesprochen gerne und mit viel Gewinn lese, auch wenn ich normalerweise nicht kommentiere:
    Dieses Thema ist mir ein Herzensanliegen.
    Nachdem ich gestern Deinen ungewöhnlich dichten, informativen und so überaus kompetenten Artikel über Seegras bei Spektrum gelesen habe habe ich mir vorgenommen, hier mal wieder was zu sagen.
    Und den Pilzwald sowie den Teich habe ich nicht vergessen.
    Nach dem heutigen Angeln hätte ich noch ein paar aktuelle Fragen zur Entwicklung der Aalbestände, die Du vielleicht zu beantworten helfen kannst. Die Daten erscheinen mir nämlich inzwischen etwas widersprüchlich.

  4. #4 Bettina Wurche
    14. März 2021

    @Alisier: Danke, das freut mich! Mein Grauwal-Artikl müsste auch bald `rauskommen : )
    Was ist denn widersprüchlich?

    Der IUCN-Status ist: Critically endangered.
    Diese Bachelor-Arbeit (2019) fasst zusammen: “Der Aal gehört zu den gefährdetsten Fischarten in ganz Europa.”
    https://digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_thesis_0000001924/dbhsnb_derivate_0000002673/Bachelorarbeit-Meyer-2019.pdf
    Die aktuelle Einschätzung des Thünen-Instituts für Ostsee-Fischerei kommt zum gleichen Ergebnis:
    https://www.fischbestaende-online.de/fischarten/aal-europaeischer

    Einige Fischereiverbände klingen anders – das bezieht sich aber erstmal nur darauf, dass jetzt weniger Glasaale für den Export nach Asien massenhaft weggefangen werden dürfen. Wer als wichtigsten Grund für den Rückgang der Aale die Kormoran als Hauptschuldigen nennt, ist eher nicht so richtig faktenbasiert unterwegs:
    https://lfv-brandenburg.de/europas-aalbestand-steigt/
    Das ist halt Lobbyarbeit.

  5. #5 Alisier
    14. März 2021

    @ Bettina Wurche
    Da sind wir uns einig.
    Mir geht es um die (sehr erfreuliche) und bemerkenswerte Zunahme der hochziehenden Glasaale 2020, und da diese Zunahme bestätigt wurde, stellen sich für mich zwei Fragen:
    Hatte das eventuell was mit Corona zu tun? Und ist das jetzt der Hoffnungsschimmer in diesen dunklen Aalzeiten oder doch nicht?

  6. #6 Alisier
    14. März 2021

    Noch was: in den letzten zwei Jahren konnte ich ungewöhnlich viele Aale in unterschiedlichen Gewässer fangen, ohne gezielt darauf geangelt zu haben(was ich seit langem nicht mehr tue), und kein einziges (!) Exemplar hatte Schwimmblasenwürmer, und das wurde mir auch von ökologisch interessierten Mitanglern bestätigt.
    Das ist natürlich erstmal anekdotisch, aber nachdem vor ein paar Jahren fast jeder gefangene Aal voll mit diesen Parasiten war, fand ich das bemerkenswert, und diese Beobachtung hat sich meines Wissens noch nicht in der wissenschaftlichen Literatur niedergeschlagen.
    Eventuell war es ja auch Zufall, was ich aber bezweifle.

  7. #7 Bettina Wurche
    15. März 2021

    @Alisier: Die größere Menge an Glasarten dürfte in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Fischereiverbot für diese Jungfische für den unersättlichen asiatischen Markt stehen. Weniger Schwimmblasenwürmer wären eine wirklich gute Nachricht, das hatte mir nämlich besonders große Sorgen gemacht. Offenbar hast du schon nach neuen Forschungsergebnissen geschaut? Mehr könnte ich ja auch nicht machen. Beim Thünen-Institut hatte ich tatsächlich noch keine positiven Bestandsmeldungen gefunden.

    Ob Corona sich da positiv ausgewirkt haben könnte, ist fraglich. Auch wenn Restaurants und Tapas-Bars geschlossen hatten, haben die Leute ja weiterhin gegessen. In einign Regionen, z. B. in Afrika, hat die Wilderei wegen Corona extrem zugenommen – viele junge Männer haben ihre Jobs verloren und sind in ihre Familien auf den Dörfern zurückgekehrt. Dadurch hat die Wilderei etwa in der Serengeti gerade extrem zugenommen.
    https://www.wwf.de/themen-projekte/weitere-artenschutzthemen/wilderei/wahlloser-tod-immer-mehr-schlingfallen-in-afrika