Langsam steige ich die flachen Stufen hinab, mein Blick ist gefesselt von der golden blitzenden Himmelsscheibe von Nebra. Immer näher trete ich an das Artefakt heran, die goldene Sonnenscheibe und die Mondsichel schimmern auf dem dunkel-türkisen Untergrund magisch.
Dann stehe ich davor.
Wieder einmal.
Und kann wieder einmal meinen Blick kaum lösen.
Schließlich breche ich den Goldbann und trete in die Mitte des Kreises aus fünf schwarzen Monolithen. Ich stehe im Zentrum des Kreises und blicke mich langsam um. Jeder der Monolithen enthält einen Schatz aus der längst vergangenen Bronzezeit Europas: Drei kleine Schiffchen aus Goldfolie. Ein strahlendes Cape aus dünnem Goldblech, mit umlaufenden Ziselierungen. Ein kegelförmiger goldener Hut, ebenfalls fein ziseliert und magisch anmutend. Ein schwarzes Stein-Schiffchen mit Goldapplikationen.
In der Mitte dieser goldenen Objekte habe ich das Gefühl, in ein anderes Zeitalter zu blicken.
Gefangen im Glanz des Goldes, der Kunstfertigkeit und der Erhabenheit dieser einzigartigen Artefakte.
Die aktuelle Sonderausstellung „Die Welt der Himmelsscheibe von Nebra – Neue Horizonte“ im Museum für Vor und Frühgeschichte in Halle ist für mich wieder eine archäologische Schau der Superlative. Wie bereits die letzte. „Die Himmelsscheibe ist einer der bedeutendsten archäologischen Funde des vergangenen Jahrhunderts. Sie zeigt die weltweit älteste konkrete Darstellung astronomischer Phänomene, die wir kennen.“ steht auf der Seite des Landesmuseums für Vorgeschichte.
Seit ihrer Entdeckung vor etwa 20 Jahren ist die Himmelsscheibe zum Zentrum einer bislang unbekannten Kultur mitten in Deutschland, mitten in Europa, geworden. Halle lag vor 3500 Jahren im Zentrum der bronzezeitlichen Welt. Die fruchtbaren Erde zwischen Harz, Elbe und Saale ernährte viele Menschen und ermöglichte ihnen ein offenbar gutes Leben: Die Aunjetitz-Kultur.
Durch die fruchtbare Landschaft liefen die wichtigen Handels- und Fernverkehrsrouten zwischen Norden und Süden und Osten und Westen: Cornwall und Stonehenge im Westen, die antiken Kulturen der Ägäis, die Hochkulturen an Euphrat und Tigris und die östlichen Steppen.
Zwei große Einwanderungswellen der Glockenbecher- und etwas später der Schnurkeramik-Kulturen wanderten in dieses Gebiet ein. Die Migranten aus dem Osten brachten ihre Vorstellungen des Himmels, ihre Handwerkskunst und noch viel mehr mit. Benannt sind beide Kulturen nach ihrer typischen Keramik: den bauchigen Glockenbechern bzw. der mit Schnurabdrücken verzierten Gefäßen. Erkennbar sind sie heute in den Genomen ihrer überlieferten Toten und den Begräbnisriten, den Grabhügeln und Gräberfeldern mit ihren Beigaben.
Die Himmelsscheibe von Nebra – ein Chiffre
„Weil sie von größter Einfachheit und größer Komplexität ist, spricht sie alle an.“ beschreibt Prof. Harald Meller das Artefakt in „Griff nach den Sternen. Nebra, Stonehenge, Babylon – Reise ins Universum der Himmelsscheibe“. Sonne, Mond und Sterne sind auf den ersten Blick und kinderleicht erkennbar. Astronomisch Vorgebildete erkennen dann das Siebengestirn der Plejaden und können immer weiter den kalendarischen Code des Artefakts verlieren: Die Vereinbarung des Sonnen- und Mondjahres mit einer Schaltregel.
Schon Harald Mellers und Kai Michels erstes Buch „Der geschmiedete Himmel“ von 2004 und die erste Ausstellung in Halle hatten mich in den Bann der Bronzezeit gezogen. Dort ging es bereits um die Entschlüsselung der Himmelsscheibe und bahnbrechende Entdeckungen dieser neuen Kultur mit ihren sakralen Ringheiligtümern und Kreisgrabenanlagen mitten in Deutschland. Seitdem sind viele Jahre vergangen, mit dem neuen Buch „Griff nach den Sternen“ legen Meller und Michel ein Update vor.
Mittlerweile sind weitere in den Archiven schlummernde archäologische Artefakte in diesen neuen kulturellen Kontext miteingefügt worden, die Welt vor 3500 Jahren wird immer detaillierter. Längst ist klar: Nebra lag damals im Zentrum der Zivilisation, im kulturellen, wissenschaftlcihen und materiellen Austausch zwischen Stonehenge und Babylon, Schweden und Mykene. Hier kreuzten sich Handelswege von Ost nach West und Nord nach Süd, Luxus- und Alltagsgüter, Ideen und Weltbilder, Kulturen und Religionen aus allen Himmelsrichtungen hinterließen ihre Spuren.
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