Die Bronzezeit war das Zeitalter der Entdeckung der Metallbearbeitung in Europa. Unter den bronzezeitlichen Artefakten wie Beilen und Schwertern ragt allerdings die Himmelsscheibe wie ein Olymp der Schmiedekunst empor. Mittlerweile haben WissenschaftlerInnen vieler verschiedener Disziplinen der Himmelsscheibe immer mehr ihrer Geheimnisse entrissen. Heute ist klar: dieses einzigartige Artefakt – niemals und nirgendwo ist etwas Ähnliches gefunden worden – ist tatsächlich dort in der Umgebung von Nebra hergestellt worden. Mit Gold aus Cornwall und astronomischem Wissen, dass vermutlich aus den Hochkulturen an Euphrat und Tigris stammte.
In „Griff nach den Sternen“ rekonstruieren Meller und Michel die Erforschung der Himmelsscheibe und entwerfen ein noch detaillierteres Bild der Gesellschaft, in der dieses einzigartige Artefakt geschaffen werden konnte. Sie stellen Bezüge zu Kulturen und Artefakten der Antike her und finden immer wieder Anhaltspunkte für Migration und Austausch, für Fernreisen und kulturelle wie materielle Importe. Vom goldenen Rohstoff aus den Flüssen Cornwalls und Glasschmuck aus den Werkstätten der südlich gelegenen Hochkulturen. Spangenförmige Metallbarren in genormtem Gewicht, unzählige Beile als Statussymbol, wenige Dolche als hierarchische Auszeichnung erzählen von einer hierarchischen Gesellschaft in der Aunjetitz-Kultur im heutigen Deutschland, Polen und Tschechien. Offenbar herrschte jeweils ein Fürst, der in einem großen Hügelgrab bestattet wurde, über eine Kriegerschar, an der Basis der Gesellschaft standen Ackerbauern und Viehzüchter. Silberne Diademe aus Spanien und goldene Gesichtsmasken aus Mykene erzählen von dortigen komplexen Hierarchien und reichen Oberschichten und Herrschern.
Im Buch wird die komplexe Entschlüsselung der Paläoastronomie detailliert vorgestellt. Es geht um die Pleiaden, das Mond- und Sonnenjahr und eine komplizierte Schaltregel, wie sie bereits in babylonischen Keilschrift Texten aus dem 7. Vorchristlichen Jahrhundert schriftlich fixiert war. Das Wissen darum dürfte noch wesentlich weiter in die nicht schriftlich überlieferte Kultur zurückreichen. Offensichtlich hat die Himmelsscheibe exotisches Wissen zur Entschlüsselung des Geheimnisses der Zeit aus Hochkulturen wie Babylon bis nach Mitteleuropa gebracht, möglicherweise durch einen privilegierten Reisenden.
Das Wissen um die Zeit und ein Kalender waren natürlich auch für die EuropäerInnen der Bronzezeit überlebenswichtig, schließlich mussten sie für Saat und Ernte die richtigen Zeitpunkte finden. Vieles spricht dafür, dass eine sakrale Kaste die „Herren der Zeit“ waren und der landwirtschaftlich arbeitenden Bevölkerung den Kalender vorgaben.
Die Himmelsscheibe war über einen langen Zeitraum hinweg in Gebrauch, sie ist offenbar mehrfach geändert worden. Der Schmied, der sie einst erschuf, war extrem kunstfertig. Er dürfte ein einzigartiger Kunsthandwerker ohne seinesgleichen gewesen sein, möglicherweise stammte er aus dem Osten, wo die Schmiedekunst früher entwickelt worden war. Seine Nachfolger hingegen waren weit weniger geschickt. Im Laufe ihrer schätzungsweise 150-jährigen Benutzung ist die Himmelsscheibe mehrfach verändert worden. Diese Änderungen sind weit weniger geschickt ausgeführt worden.
Die intensive Beschäftigung mit dem Lauf der Sonne, des Mondes und dem Sternenhimmel der Aunjetitz-Kultur schlägt sich auch in den Ring-Heiligtümern von Pömmelte und Goseck nieder. Auch sie waren gigantische Kalender, in denen garantiert beeindruckende sakrale Zeremonien stattgefunden haben dürften.
Die Aunjetitz-Kultur, so meinen die ArchäologInnen, basierte auf einer Hybridkultur aus Glockenbecher-Leuten und Schnurkeramikern. Diese beiden großen Einwanderungswellen sind etwa in den Begräbnisritualen in unterschiedlichen Begräbnisrituale, unterschiedlichem Schmuck und unterschiedlicher Bewaffnung zu erkennen.
Herrscher, Untertanen und Reisende
Im Laufe ihrer Recherche fanden die ArchäologInnen immer wieder weitere archäologische Fundstellen wie Hügelgräber, fahndeten nach verschollenen Funden und setzten allmählich ein immer komplexeres Bild dieser verschwundenen Kultur zusammen. Schließlich entstand eine komplexe Kultur mit einem fürstlichen Gewaltmonopol und einer Herrschafts-Kontinuität von mindestens vier Jahrhunderten. Das Nebra-Reich wurde offenbar von einem Fürsten regiert, der eine höchstwahrscheinlich privilegierte Kriegerkaste unter Waffen hielt und über die anderen Menschen, die mit Ackerbau und Viehzucht sowie Handwerk für die Versorgung. Immer wieder stießen die Archäologen auf exotische Artefakte, die Handelsbeziehungen nach Mesopotamien, Babylon, Kreta und den Megalithkulturen an der Atlantikküste und dem heutigen England aufzeigten. Sie vermuten, dass aus der Herrscherfamilie einzelne Privilegierte auch in die Stadtstaaten des heutigen Nahen Ostens reisten und dort direkt in Kontakt mit Hochkultur, Astronomie, Handwerk und sakraler Welt kamen. So sind vermutlich die Bedeutung der Himmelsbarke oder des Himmelsschiffes auch von dort importiert. Die Vorstellung, dass die Sonne auf einer Barke über den Himmel fährt, war im Nahen Osten verbreitet. Die Wurzeln grundlegender astronomischer Kenntnisse sind aus Assyrien und Babylon schriftlich überliefert und von dort in die europäische Antike geliefert worden. Auch die Kunstfertigkeit der Goldbearbeitung scheint wie das gesamte Metallhandwerk nach Nebra importiert worden zu sein und nach einer Blütezeit Bronze in der Bronzezeit auch zeitweise wieder verloren gegangen zu sein. Wie etwa an der Himmelsscheibe zu erkennen ist.
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