In der Seine schwimmt gerade ein außergewöhnlicher Besucher, ein Weißwal oder Beluga. Am Dienstag der vergangenen Woche war der Meeressäuger erstmals in dem französischen Fluss gesichtet worden, seit Freitag steckt er in einer Schleuse in Saint-Pierre-La-Garenne im Departement Eure etwa 70 km vor Paris fest. Damit ist der arktische Wal 130 km von der Seinemündung am Ärmelkanal entfernt und etwa 3000 Kilometer von seinen polaren Heimatgewässern.

Belugas schwimmen oft in Flussmündungen hinein, das Brackwasser macht ihnen nichts aus, selten schwimmen sie Flüsse weiter hinauf. Allerdings sind diese weißen Wale Bewohner der eiskalten arktischen und subarktischen Gewässer, dieser Meeressäuger hat sich definitiv verirrt.
Dass es ihm nicht gut geht, ist auf den Fotos zu sehen: Rückgrat und Rippen sind deutlich sichtbar, der Beluga ist extrem abgemagert. Belugas sind Zahnwale und fressen, wie alle Delfinverwandten, meist Fische und Weichtiere. Theoretisch könnte er in der Seine Fische, sein Echolot erlaubt ihm auch in trüben Gewässern die Jagd. Versuche von WalexpertInnen, den Wal mit Heringen, Forellen oder Tintenfischen zu füttern, sind leider fehlgeschlagen. Veterinärmediziner hatten auch schon vergeblich versucht, ihm Vitamine und andere aufbauende Produkte zuzuführen. Diese Mangelernährung ist keinesfalls in den letzten fünf Tagen geschehen, sondern weist auf eine längere Hungerzeit hin. Es ist zu befürchten, dass der Wal schon krank und geschwächt in die Seine hineinschwamm.

Für den einsamen Wal ist die sommerlich hohe Temperatur der Seine das größte Problem, er dürfte im Hitzestress sein. Darum wäre es für sein Überleben wichtig, möglichst schnell wieder ins kühlere Meer zu gelangen und von dort aus vielleicht sogar in seine Heimat zurückzuschwimmen. Dafür müsste er aber zunächst aus der Schleuse herauskommen, was er aus eigener Kraft kaum schaffen dürfte.

Auch wenn er abgemagert ist, wiegt der 4 m lange Wal etwa noch 800 kg, so schätzen ist französische Biologen (ein normal fetter Weißwal sollte etwa 1200 kg wiegen). Diese Größe macht den Umgang mit ihm nicht einfach, zumal er offensichtlich nicht an Menschen gewöhnt ist (anders als der zutrauliche Hvaldimir, der 2019 vor Norwegen auftauchte). Außerdem, so die französische Presse, sei die Schleuse ungünstig gelegen, so dass jeder Handgriff darin und mit dem Wal per Hand, ohne technische Hilfe erfolgen muss.

Ein französisches Expertenteam des Meeresparks Marineland Antibes hat vor Ort Evakuierungslösungen entwickelt. Marineland Antibes ist der größte Meereszoo Europas und hat eine angeschlossene Forschungsstation, dort werden auch Große Tümmler und Orcas gehalten. Darum sind Veterinäre und Pfleger mit dem Handling auch von großen Meeressäugern vertraut. Eine ideale Lösung gibt es nicht, so Isabel Brasseur (Marineland Antibes), aber vielleicht fällt Ihnen vor Ort etwas ein. Zu den Möglichkeiten einer Walrettung gehört das Herausbugsieren des schweren Tieres aus der Schleuse, und die Hoffnung, dass der Wal dann von alleine ins Meer zurückfindet.
Ob er überhaupt den langen, einsamen Rückweg nach Norden finden würde, bezweifle ich wegen des schlechten Zustands.

Ein Beluga-Lift – hat leider nicht geklappt

Am Mittwochmorgen hat das Walrettungsteam die erste Phase der ambitionierten Rettungsaktion durchgeführt und den Weißwal aus dem Wasser gehoben. Fast 80 Menschen arbeiteten ab Dienstagnacht sechs Stunden lang daran, das 800 kg schwere Säugetier in ein Netz zu locken, bevor es mit einem Kran aus dem Fluss gehoben und auf einen Lastkahn gesetzt wurde. Als nächstes wird der Wal in einen Kühllaster verladen und auf der Straße zu einem Meerwasserbecken an einer Schleuse im Hafen von Ouistreham im Nordwesten Frankreichs gebracht.

Isabelle Brasseur sagte gegenüber der Presse, ihn ins Meer zurückzubringen sei nicht ohne Risiko für den Wal: „Es könnte sein, dass er jetzt stirbt, während der Handhabung, während der Fahrt oder am Zielort“. Die ganze Aktion ist für den geschwächten Meeressäuger extrem stressig.

Jetzt ist er bei der Bergungsaktion (und während ich diesen Artikel schrieb) verstorben:

1,472 / 5,000

Während des Transports hatte sich der Gesundheitszustand des ohnehin stark geschwächten Wals so verschlechtert, dass die beteiligten sechs Tierärzte übereinstimmend zum Einschläfern rieten. Die Tierärztin Florence Ollivet-Courtois erklärte, dass die Überlebenschancen dieses Tieres minimal seien, ein Überleben in Freiheit wäre aufgrund der „extremen“ Magerkeit äußerst unwahrscheinlich gewesen. Seine verbliebene Muskulatur reichte selbst für die Atmung kaum noch aus: “Wir waren der Ansicht, dass sein Zustand mit einer Freilassung nicht vereinbar sei “, sagte sie in der Pressekonferenz. Jetzt ist die Nekropsie des Meerestiers sehr wichtig. Neben dem vor Kurzem in der Seine verirrten und ebenfalls verstorbenen Orca stehen jetzt zwei große Nekropsien an.

Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse!
Beide Tiere Tiere dürften gesundheitlich schwer angeschlagen gewesen sein, bevor sie sich in die Seine verirrten. Allerdings werden die Nekrospien nicht klären können, warum sie sich verirrt haben.

Besuch aus der Arktis

Belugas sind hocharktische Wale, sie kommen etwa vor Grönland oder um das norwegische Archipel Svalbard herum vor. Weißwale leben und jagen normalerweise in Familiengruppen, ihre zwitschenrde Kommunikation hat ihnen den Beiname Kanarienvögel der Meere eingebracht.
Allein geht es ihnen nicht gut, darum dürfte für den einsamen Seine-Besucher auch die Einsamkeit ein Problem sein.

Ob der Besucher aus dem europäischen Nordpolarmeer und den Nordatlantik über die Nordsee durch den Ärmelkanal in den französischen Fluss gelangt ist, oder über den offenen Atlantik, um die britischen Inseln herum von südlich von Süden her, ist nicht bekannt. Er ist etwa 3000 Kilometer von seinem normalen Lebensraum entfernt.

Belugas und ihre Verwandten, die Narwale, leben am und unter dem Meereis, das auf dem Nordpolarmeer schwimmt. Weiß- und Narwale haben keine Rückenflossen und können dadurch knapp und trotzdem sicher unter Eisschollen tauchen, ohne Verletzungen zu riskieren. Außerdem haben diese Delfin Verwandten normalerweise einen extrem dicken Speckmantel gegen die eisigen Temperaturen. Ein gut genährter Weißwal sieht so aus, als trüge er einen Speckmantel.

Belugas und Narwale gehören zu den Verlierern der Klimakrise: Das arktische Eis taut immer schneller ab, die Arktis erwärmt sich viel schneller als andere Teile der Weltmeere. Damit verlieren diese Walarten ihren Schutz. Überall dort, wo das Eis zurückgeht, ist jetzt zu beobachten, wie Orca-Familien die etwas kleineren und wehrlosen Weiß- und Narwale jagen. Beide Arten sind zwar auch Zahnwale, tragen aber nur wenige Zähne und sind nicht wehrhaft. Die Orcas hingegen meiden das Eis, da die scharfen Eiskanten ihre hohen Rückenflossen verletzen könnten. Wo das Eis zurückgeht, können die Orcas erfolgreich jagen.

Belugas in der amerikanischen und kanadischen Arktis werden aufgrund der Managementpläne für bedroht Arten überwacht, so ist etwa die Population im kanadischen St. Lorenz-Strom gut bekannt. Die Belugabestände anderer Areale sind weniger gut erforscht. Insgesamt schätzen Biologen, dass es heute insgesamt 136.000 erwachsene Weißwale gibt, aufgeteilt in verschiedene voneinander isolierte Bestände. So ist Delphinapterus leucas auf der Roten Liste des IUCN zurzeit als „Nicht gefährdet“ eingestuft.
Allerdings gibt es zu wenig Daten, um einen Populationstrend zu benennen.

Wal-Besuche in der Seine und an der französischen Küste

Es ist nicht das erste Mal, dass sich ein großer Wal in den französischen Fluss verirrt hat, so war im Mai ein Orca nach wochenlanger Odyssee in der Seine schließlich verhungert. Die Autopsie-Ergebnisse stehen noch aus.

2021 war ein 19 Meter langes Finnwal-Weibchen bei Calais gestrandet und dann verstorben. Anders als Belugas kommen Orcas und Finnwale tatsächlich in den französischen Gewässern vor. Allerdings sind auch sie, sowie sie in den starken Schiffsverkehr gerade im Kanal kommen, meist verloren, da der Lärm und die Schiffsbewegungen ihnen extremen Streß verursacht

 

 

 

Kommentare (8)

  1. #1 rolak
    10. August 2022

    Och wie schade – da sind die Erinnerungen an einen ‘Vorgänger’ doch wesentlich angenehmer…

  2. #2 Bettina Wurche
    10. August 2022

    @rolak: Ja, allerdings. Aber wenig überraschend. Der arme Wal sah entsetzlich dünn aus und muss in der warmen Brühe wirklich gelitten haben

  3. #3 RPGNo1
    10. August 2022

    Wir sollten auch Hvaldimir zu den angenehmen Erinnerungen hinzufügen.

  4. #4 Bettina Wurche
    10. August 2022

    @RPGNo1: Unbedingt! Das war so eine schräge Story, dass ich einen Tag abgewartet habe, um sie zu verifizieren. Im Moment soll er sich an norwegischen Aquakulturen feist fressen. Da wäre wohl mal ein Update fällig.
    Ich habe im Zoo Duisburg einen der beiden Belugas kennengelernt. Der wartete immer, bis jemand die Kamera auf ihn richtete und hat dann eine Wasserfontäne gespuckt. Wenn die Leute losquietschten, hat er sich mächtig amüsiert. So etwas ist mir in Duisburg auch mit dem mittlerweile verstorbenen Flußdelphin Baby passiert.

  5. #5 Spritkopf
    10. August 2022

    In einem deiner anderen Blogartikel hatten wir ja den Link auf eine Doku über Orcas, die ebenfalls über den starken von Schiffslärm hervorgerufenen Stress berichtete, dem die Tiere unterliegen.

    Ich könnte mir vorstellen, dass die Wale versuchen, vor dem Lärm der Schiffe im Ärmelkanal zu entkommen und deswegen in die Seine getrieben werden. Insbesondere wenn ich mir die geographischen Gegebenheiten im Kanal anschaue und die große Bucht zwischen Le Havre und der Halbinsel Cotentin. Wenn die Wale erst einmal in dieser Bucht gelandet sind, kommen sie nur wieder heraus, wenn sie in Richtung Schiffslärm schwimmen. Versuchen sie, einen anderen Ausweg zu finden, landen sie schnell in der Seine.

  6. #6 Bettina Wurche
    11. August 2022

    @Spritkopf: Meereslärm setzt Walen definitiv zu. In den großen Buchten vor den Flußmündungen ist überall extrem dichter Schiffsverkehr, genau wie im Kanal. Dazu kommt bei uns, dass die flachen Schelfmeere der Küstengewässer an Nordee, Kanal,… für Irrgäste ungewohnt sind. Sediment gibt ein weiches Echo. Unsere Schweinswale sind das gewohnt, aber eben nicht die Irrgäste. Und dann noch von der Familie getrennt und ganz allein, geht das nicht gut. Welche Route diese Wale genommen haben, lässt sich aber nicht rekonstruieren

  7. #7 RPGNo1
    6. September 2022

    Am Sonntagmorgen ist in der Meldorfer Bucht an der Nordseeküste ein Delfin gestorben. Zwei Rettungsaktionen konnten dem Tier nicht helfen.

    https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Delfin-verendet-in-Meldorfer-Bucht-Rettung-erfolglos,delfin364.html

  8. #8 Bettina Wurche
    6. September 2022

    @RPGNo1: Vielen Dank fürs Teilen! Der Ärmste : (