Die Versorgungsforschung ist in Deutschland eine vergleichsweise junge Disziplin. Sie untersucht die Strukturen und Abläufe im Gesundheitssystem, z.B. was die Patient/innen tatsächlich von bestimmten Behandlungsverfahren haben, wie ökonomische Anreizsysteme auf die Akteure des Gesundheitswesens wirken oder wie die stationäre und die ambulante Versorgung zusammenwirken. Wichtige Fragen also. Die Daten, die im Gesundheitswesen bei der Versorgung von Patient/innen anfallen, sind naheliegenderweise eine ganz wichtige Datengrundlage der Versorgungsforschung. Nach jahrelangem Ringen wurde nun endlich eine sog. „Datentransparenzregelung“ auf den Weg gebracht, wonach zumindest die Daten, die für den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen aufbereitet werden, der Forschung zugänglich gemacht werden sollen. Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) wurde als datenaufbereitende Stelle bestimmt.
So weit, so gut. Allerdings soll nun das Regionalmerkmal aus dem Datensatz, den das DIMDI erhält, herausgenommen werden. Das hat für alle regionalbezogenen Fragestellungen der Versorgungsforschung erhebliche Folgen. So könnte man z.B. die Frage, ob in Niedersachsen mehr Antibiotika verordnet werden als in Hessen oder ob Ärzte in Norddeutschland mehr Depressionen diagnostizieren als in Süddeutschland, nicht mehr mit den beim DIMDI verfügbaren Daten untersuchen. Solche regionalen Unterschiede in der Gesundheitsversorgung sind aber wichtige Hinweise auf Fehlsteuerungen im Gesundheitswesen, d.h. auf Über-, Unter- oder Fehlversorgung.
Der Grund für diesen versorgungsforscherischen Schildbürgerstreich ist trivial: Wie so oft, geht es auch hier ums Geld. Es sollen regionale Umverteilungen, die dadurch entstehen, dass die Versicherten in einigen Bundesländern mehr Geld aufbringen als für ihre Versorgung ausgegeben wird, nicht zu einfach nachvollziehbar werden. Solche Umverteilungen sind politisch brisant, da unterbindet man lieber die Nutzbarkeit der Daten beim DIMDI für alle regionalen Fragestellungen. Dagegen wehrt sich nun die Versorgungsforschung durch eine Online-Petition beim Deutschen Bundestag. Mit der Petition 37108 „Forschung – Regionalmerkmal zur Unterstützung der Versorgungsforschung“, die noch bis zum 3.12. läuft und mitgezeichnet werden kann, wird der Deutsche Bundestag aufgefordert, „die Erforschung regionaler Unterschiede in der Gesundheitsversorgung zu ermöglichen und zu stärken, indem das Regionalmerkmal jedes Versicherten weiterhin in den Daten für die Versorgungsforschung (Datentransparenz nach §§ 303a-e SGB V) enthalten bleibt. Dazu möge der Deutsche Bundestag beschließen, dass der Datenaufbereitungsstelle (§ 303d SGB V) die Information über den Wohnort (Landkreis) jedes Versicherten zur Verfügung gestellt wird.“
Ein aus meiner Sicht höchst berechtigtes Anliegen. Die Versorgungsforschung so an die Kette zu legen, ist kein Ruhmesblatt für den Wissenschaftsstandort Deutschland. Man könnte fast meinen, hier hätten ein paar schlaue Finanzpolitiker den Begriff „Datentransparenzregelung“ im Sinne des Orwellschen Ministeriums für Wahrheit verstanden: als Regelung, um Transparenz zu verhindern.
Kleiner Nachtrag für Freunde des politischen Raffinements: Rein technisch gesehen entfällt das Regionalmerkmal mit dem Auslaufen der sog. “Konvergenzklausel”, die einmal eingeführt wurde, um das Umverteilungsvolumen zwischen den Ländern zu begrenzen. Nachdem das festgelegte Volumen 2010 von keinem Land überschritten wurde, kommt die Konvergenzklausel nicht mehr zur Anwendung, damit wird unmittelbar für den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich das Regionalmerkmal nicht mehr benötigt. Eine Mehrheit von (Empfänger-)Ländern hat sich im Bundesrat dagegen ausgesprochen, es trotzdem beizubehalten. Insoweit immerhin besteht Transparenz.
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