The decade of the brain ist zwar um, aber das Jahrhundert der Hirnforschung hat vielleicht gerade erst begonnen. Die „Neurosciences“, wie sie so schön heißen, sprechen in immer mehr Praxisbereichen mit. Auch in den Gesundheitswissenschaften macht sich das bemerkbar. Ein interessanter Aspekt dabei ist, was die Hirnforschung zum Thema Gesundheitsaufklärung und Verhaltensänderung beizutragen hat. Wie die Schulpädagogik steht auch die Prävention oft vor der Situation, dass die „Zielgruppen“ einfach nicht wollen, was aus fachlicher Sicht so eindeutig gut für sie zu sein scheint: Mehr Bewegung, weniger Rauchen, vorsichtiger beim Alkohol. Für all das gibt es gute Gründe, aber irgendwie haben die Leute ihren eigenen Kopf. Und da möchte man dann gerne hineinsehen.
Hirnforschung, Lernen, Motivation
Die Idee, sich bei der Hirnforschung Rat zu holen, wenn man pädagogisch nicht weiterkommt, hat seit Jahren Konjunktur. Man muss nur einmal mit den Suchwörtern „Hirnforschung, Pädogogik“, „Hirnfoschung, Erziehungswissenschaft“ oder „Hirnforschung, Lernen“ googeln. Der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer hat sogar ein „Transferzentrum Neurowissenschaften und Lernen“ aufgebaut. Allerdings scheint mir, wie manchen anderen Leuten auch, dass der Ertrag der Hirnforschung bei praktischen Problemen des Lernens noch recht überschaubar ist: Dass man besser lernt, wenn man emotional beteiligt ist (z.B. Spaß am Lernen hat), wenn man an Vorwissen anknüpfen kann oder das Lernen lohnend erscheint – das wusste man auch ohne Hirnforschung. Und ob so viel gewonnen ist, wenn man darauf hinweist, jetzt sei man weiter, weil man das durch bildgebende Verfahren mit Abläufen im limbischen System in Verbindung bringen könne, weiß ich nicht. Dass Lernprozesse im Hirn stattfinden, war anzunehmen.
Ich frage mich, ob die Sparte der Hirnforschung, die derzeit so viel von sich reden macht, also die hirnphysiologisch orientierte Forschung, überhaupt der richtige Adressat für solche Themen ist. Diese Forschung scheint dazu zu neigen, die höheren Hirnleistungen – also die Welt wahrzunehmen, in Bedeutungen zu ordnen, Zukunftserwartungen zu bilden, Alternativen abzuwägen und dazu subjektive Handlungsgründe zu bilden – nur als Korrelate basaler biologischer bzw. physiologischer Prozesse zu behandeln. Wenn aber eigentlich diese basalen Prozesse im Focus der Forschung stehen, geraten die subjektiven Handlungsgründe, ihre Eigenart und ihre Funktion leicht aus dem Blick.
Spezifische und unspezifische Ebenen
Wenn ein Kind sich dafür interessiert, wie die Photosynthese funktioniert, dann mag sich das als erhöhte Aktivität im limbischen System abbilden. Aber diese „Aktivität“ ist unspezifisch gegenüber dem, warum sich das Kind für die Photosynthese interessiert. Ein anderes Kind interessiert sich nicht dafür. Den Grund dafür kann man aus der Aktivität des limbischen Systems oder anderer beteiligter Hirnareale (bisher) nicht ablesen. Hier kommt die Biographie des Kindes ins Spiel, seine bisherigen Erfahrungen mit Pflanzen, was es über das Thema gelesen oder von seinen Eltern gehört hat, seine Zukunftserwartungen, Wünsche etc. Man muss die Kinder fragen und je nachdem, wie verständlich ihnen ihr eigenes Handeln ist, können sie mehr oder weniger kompetent darauf Antwort geben. Man kann sich mit den Kindern auch gemeinsam auf Motivsuche begeben, falls das wichtig ist. So, wie man z.B. auch in einer Therapie versuchen kann, Handeln verständlich und im eigenen Interesse veränderbar zu machen. Dabei verlässt man eigentlich nicht die Hirnforschung: Subjektive Handlungsgründe sind nichts anderes als eine sehr spezifische Hirnleistung, und zwar spezifisch für menschliches Handeln. Menschen handeln (potentiell) als Subjekte nach subjektiv guten Gründen. Das mögen manchmal objektiv schlechte Gründe sein. Daran kann man sich dann z.B. in der Gesundheitsberatung abarbeiten. Die Sparte der Hirnforschung, die sich damit beschäftigt, nennt man traditionell Psychologie. Dass sie oft auch keine Antworten auf praktische Fragen hat, muss nicht weiter erläutert werden.
Nicht der Blutzuckerverbrauch irgendwo in einem Hirnareal ist also der für das Interesse des Kindes an der Photosynthese spezifische Zustand des Gehirns, sondern die subjektiven Handlungsgründe. Die sieht man bisher noch nicht im Hirnscan. Anders formuliert: Wenn man erklären will, wie Menschen handeln, soll man nicht die Hirnleistungen übergehen, die dafür spezifisch sind und genau dafür phylogenetisch ausdifferenziert wurden. Die Schönheit eines Dürer-Bildes erklärt man ja auch nicht mit den chemischen Eigenschaften der Farben auf der Leinwand.
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