Für viele Christen, vor allem für Katholiken, ist Abtreibung bekanntlich eine Sünde. Dies hat aus christlicher Perspektive Folgen für die Nutzung von Zellen, die aus abgetriebenen Föten gewonnen wurden. Die Nutzung solcher Zellen wird von manchen Christen als ethisch ähnlich unvertretbar betrachtet wie die Forschung an Hirnpräparaten, die im Zuge der Medizinverbrechen im Nationalsozialismus angefertigt wurden.
Menschliche Zelllinien, die von abgetriebenen Föten stammen, werden u.a. auch für die Produktion einiger Impfstoffe genutzt. Es geht um zwei Zelllinien, WI-38 und MRC-5, die 1964 und 1970 1962 und 1966 aus Lungenfibroblasten von Föten gewonnen wurden und die insbesondere bei der Züchtung von Lebendimpfstoffen gegen Röteln verwendet werden. Die Röteln sind eine in ihren Folgen oftmals unterschätzte, hochansteckende Krankheit. Wenn sich Schwangere infizieren, kann es zu Fehlgeburten und Missbildungen kommen. Die Röteln könnten durch konsequentes Impfen ausgerottet werden.
Auch bei einigen anderen Impfstoffen wird auf diese Zelllinien zurückgegriffen. Die Zelllinie WI-38 wurde übrigens von Leonard Hayflick hergestellt, nach dem die berühmte „Hayflick-Grenze“ benannt ist – die Zahl der Zellteilungen vor dem Zelltod.
Die Frage, ob man sich gewissermaßen mitschuldig macht an der „Sünde der Abtreibung“, weil man davon profitiert, wenn man sich selbst oder seine Kinder mit einem Impfstoff auf der Basis humaner Zelllinien impfen lässt, taucht immer wieder einmal in impfkritischen Diskussionszusammenhängen auf. Dabei werden mitunter zum einen falsche Tatsachen verbreitet, zum anderen ethisch unangemessene fundamentalistische Positionen bezogen.
Vor kurzem sah sich daher sogar die amerikanische „Military Vaccine Agency“, die dem Surgeon General of the United States Army zuzuordnen ist (nicht zu verwechseln mit dem Surgeon General of the United States, der obersten zivilen Public Health-Institution) veranlasst, dazu ein Informationspapier zu veröffentlichen.
Was die Sachlage angeht, stellt das Papier klar, dass die verwendeten Zelllinien nur die Zellnachfahren der ursprünglichen Zellen aus den 1960er und 1970er Jahren sind, d.h. es werden nicht etwa immer neu abgetriebene Föten für die Impfstoffherstellung benötigt. Dies wäre schon aus Sicherheitsgründen nicht sinnvoll. Des Weiteren wird darauf verwiesen, dass es bisher u.a. für die Impfung gegen Röteln keine alternativen Impfstoffe gibt, also Impfstoffe, die ohne diese Zelllinien hergestellt wurden. Andere Impfstoffe seien erst mit dem Fortschritt der Gentechnik zu erwarten.
Bei der ethischen Abwägung bezieht sich die Military Vaccine Agency interessanterweise auch auf eine Stellungnahme der „Päpstlichen Akademie für das Leben“, einer von Papst Johannes Paul II gegründeten Einrichtung, die sich mit ethischen Fragen der Lebenswissenschaften beschäftigt. Die Stellungnahme mit dem Titel Moral Reflections on Vaccines Prepared From Cells Derived From Aborted Human Fetuses, schon 2005 veröffentlicht, kritisiert wie zu erwarten zwar die Herstellung von Impfstoffen aus abgetriebenen Föten und bezeichnet dies als „Mitwirkung am Bösen“. Es sei nötig, Druck auf die Pharmaindustrie auszuüben, nach Alternativen zu suchen. Aber das Papier kommt, ähnlich wie das der Military Vaccine Agency, letztlich zu dem Schluss, dass es bei der Rötelnimpfung derzeit keine Alternative gibt, die Impfung daher angesichts der Gefährlichkeit der Röteln vertretbar sei und – jetzt kommt der entscheidende Satz – dass Eltern, die es hinnehmen, dass durch ihr ungeimpftes Kind Schwangere mit Röteln infiziert werden, verantwortlich für die daraus resultierenden Missbildungen und die ggf. folgende Abtreibung sind: „In this case, the parents who did not accept the vaccination of their own children become responsible for the malformations in question, and for the subsequent abortion of foetuses, when they have been discovered to be malformed“. Punkt? Punkt!
Nachtrag 27.7.2014: Die Zelllinien WI-38 und MRC-5 sind wohl schon aus den Jahren 1962 und 1966. Und es scheint in Japan ein vom Kitasato Institute entwickelter Impfstoff auf der Basis von Zellen aus Kaninchen-Nieren zugelassen zu sein, über den ich aber nicht viel gefunden habe. Vielleicht weiß jemand mehr?
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