Was ist Erfahrung? Der Begriff ist schillernd und mehrdeutig. Wahrnehmungen zählen wir manchmal dazu, ebenso Erlebnisse, die einem widerfahren, oder angesammelte berufliche Kompetenzen und auch das Sediment dessen, was das Leben bei uns hinterlässt – die „Lebenserfahrung“. In jedem Fall treffen dabei Welt und Subjekt aufeinander. Das Subjektive mahnt: Erfahrungen können täuschen. Das gilt für jede Begriffsvariante, von der Wahrnehmung optischer Muster über angeblich erlebte Handlungsabläufe bis dahin, wie voreingenommen man seine Erfahrungen insgesamt strukturiert.
Über Erfahrungen sprechen wir jedoch meist in einer Weise, die diese Täuschungsmöglichkeiten geradezu negiert: Unsere Erfahrung hinterfragen wir nicht gerne, wir nehmen sie lieber als letzten Prüfstein der Wahrheit. In einer gewissen, sehr subtilen wissenschaftstheoretischen Sichtweise mag das auch zutreffen, bei unseren alltäglichen Erfahrungen sollte man vorsichtiger sein.
In seinem Blog „Beweisaufnahme in Sachen Homöopathie“ geht Norbert Aust gerade folgender Aussage von Cornelia Bajic, Vorsitzende des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte, nach:
„Unsere Erfahrung aus der Behandlung anderer Epidemien lässt den Schluss zu, dass eine homöopathische Behandlung die Sterblichkeitsrate der Ebola-Patienten signifikant verringern könnte“, urteilt Bajic. Dokumentiert ist der erfolgreiche Einsatz von Homöopathika zum Beispiel bei Cholera, Diphterie oder auch Gelbfieber.”
Es geht um die Geschichte der gescheiterten Mission homöopathischer Ärzte, in Westafrika Ebolaerkrankte homöopathisch zu behandeln, diese Geschichte ist in Skeptiker-Blogs und vielen Medien immer wieder berichtet worden, das soll hier nicht wiederholt werden. Norbert Aust hat sich die Quellen, auf die Frau Bajic im Zusammenhang mit ihrer Äußerung verweist, angesehen und kommt zu dem Ergebnis, dass sich die behauptete Erfahrung mit der homöopathischen Behandlung von Epidemien mehr oder weniger ausschließlich auf das 19. Jahrhundert bezieht.
Welchen Sinn hat das Wort „Erfahrung“ dann hier eigentlich und welche Wahrheit verbürgt es? Die persönliche Erfahrung von Frau Bajic kann damit nicht gemeint sein. Sicher reicht diese nicht ins 19. Jahrhundert zurück und vermutlich hat sie auch in ihrem gegenwärtigen Leben keine Epidemien behandelt. Es geht eher um „Erfahrung“ im Sinne eines kollektiv Geglaubten, das sich in diesem Fall an nicht nachprüfbaren Berichten aus längst vergangenen Zeiten festmacht. Nicht nachprüfbar, weil, wie Norbert Aust schreibt, kaum konkrete Informationen über die Behandlungen damals vorhanden sind.
Die „Erfahrung“, von der Frau Bajic spricht, dürfte somit eher der Erfahrung gleichen, mit der auch sonst in der Homöopathie gerne argumentiert wird: Mit nicht nachprüfbaren Erzählungen über Behandlungserfolge, die sich in Studien guter Qualität nicht nachweisen lassen. Trotzdem werden diese „Erfahrungen“ für bare Münze genommen, sie verbürgen eine höhere Wahrheit als die der wissenschaftlichen Studien. Erfahrungsmedizin, die auch aus Erfahrung nicht klug wird.
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