Der aktuelle Masernausbruch in Berlin und der Tod eines infizierten Kleinkinds haben die Diskussion um den Sinn einer Impfpflicht einmal mehr angefacht. Diese Diskussion scheint Masernausbrüche zu begleiten wie eine Komplikation. Auch 2013 wurde schon darüber gestritten, damals hatte der liberale Gesundheitsminister Bahr sie ins Spiel gebracht.
Ich glaube, die Forderung nach einer Impfpflicht ist ein Symptom des Scheiterns der neoliberalen Gesundheitspolitik, die ständig die Eigenverantwortung der Menschen im Munde geführt hat, um den Abbau öffentlicher Daseinsvorsorge zu legitimieren. Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD), den man für eine wirksame Impfaufklärung und das Schließen von Impflücken in Kitas, Schulen oder in Flüchtlingseinrichtungen bräuchte, ist seit Jahrzehnten personell ausgezehrt worden. Gesundheitspolitisch steht er im Abseits, ein Gesundheitsamt ist eben nicht so sexy wie ein Kernspin-Tomograph. Bekenntnisse zum ÖGD, z.B. bei der EHEC-Krise 2011, blieben im Hinblick auf die Ressourcen und die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des ÖGD weitgehend folgenlos. Die Masernausbrüche zeigen nun in aller Härte die Grenzen der Eigenverantwortungslogik auf und die Reaktion darauf ist – eine Paradoxie neoliberaler Politik – die Drohung mit dem Zwang.
Aber gut, die Situation ist nun einmal so, die Notlösung „Impfpflicht“ steht auf der Agenda. Ich bin nicht sicher, ob sie leistet, was sie leisten soll. Es gibt Argumente dafür und dagegen. Ich würde gerne gute Argumente für das Pro wie für das Contra sammeln, vielleicht hilft es dabei, die Entscheidung in der einen oder anderen Richtung wenigstens auf bessere argumentative Grundlagen zu stellen, als das in der aktuellen Diskussion oft der Fall ist. Ich fange mit dem an, was mir beim Thema Impfpflicht durch den Kopf geht, um Ergänzung wird gebeten. Auf ideologisch verbohrte Impfkritik bitte ich zu verzichten.
Pro Impfpflicht
• Das Ziel der WHO, die Masern auszurotten, ist nun bereits zum wiederholten Male gescheitert. Es scheint ohne Impfpflicht nicht zu erreichen zu sein.
• Bei den Pocken war die Impfpflicht erfolgreich. Sie hat entscheidend zur weltweiten Eradikation der Pocken beigetragen.
• Ein an Masern erkrankter Mensch steckt mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit andere ungeimpfte Menschen oder Menschen, bei denen der Impfschutz versagt hat, an. Es gibt somit eine konkret benennbare Gefährdung, die von ungeimpften Menschen für ihre unmittelbare Umgebung ausgeht und sich nicht in einer bloß statistischen Risikoerhöhung auswirkt. Dies schafft personale Verantwortung.
• Nur mit einer Impfpflicht ist ideologischen Impfgegnern beizukommen, sie lassen sich nicht überzeugen.
• Der aktuelle Ausbruch zeigt erneut, dass schwere und auch tödliche Verläufe trotz aller Fortschritte der begleitenden Therapie nicht zu vermeiden sind. Betroffen sind davon auch immer wieder Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden konnten und besonders schutzbedürftig sind. Dies könnte juristisch auch einschneidende Eingriffe in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit legitimieren.
• Kinder in öffentlichen Einrichtungen, z.B. Schulen und Kitas, haben einen Anspruch darauf, vor vermeidbaren Gefährdungen geschützt zu werden.
Contra Impfpflicht
• Eine Impfpflicht, d.h. die Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit im öffentlichen Interesse, steht gegen die allgemeine Entwicklung in der Medizin in demokratischen Gesellschaften, solche Eingriffe grundsätzlich über den informed consent zu legitimieren. Ausnahmen müssen einer erheblichen Gefährdung der Bevölkerung vorbehalten sein. Die Impfpflicht ist medizinethisch hochgradig ambivalent, zumal hier Gesunde im öffentlichen Interesse zu einem Eingriff verpflichtet werden, der – zwar extrem selten – auch ernste Gesundheitsschäden nach sich ziehen kann.
• Eine Impfpflicht muss kontrolliert und durchgesetzt werden, wirksame Sanktionen sind notwendig. Die dafür aufzubringenden Ressourcen könnte man auch in die Stärkung anderer Präventionsmaßnahmen stecken.
• Polio konnte in Europa ohne Impfpflicht eliminiert werden (allerdings mit der oralen Impfung, bei der ausgeschiedene Impfviren den Impfschutz weiterverbreitet haben).
• Die Impflücken der Kinder bei den Masern sind in erster Linie nicht auf Impfverweigerung bei den Eltern zurückzuführen, denn bis zum Einschulungsalter sind die für die Herdenimmunität notwendigen Impfraten erreicht. Die Kinder werden zu spät geimpft, d.h. es geht „nur“ um Versäumnisse der rechtzeitigen Impfung. Das müsste sich auch anders lösen lassen.
• Eine Impfpflicht bringt möglicherweise mehr Eltern auf die Seite ideologischer Impfgegner.
• In der aktuellen Diskussion geht es um eine „Impfpflicht light“, d.h. um die Sicherung der Impfung vor Besuch einer Kita oder einer Schule. Dies schützt die Kinder dieser Einrichtungen, aber es löst nicht das Problem der Impflücken bei Kindern in privat finanzierten Einrichtungen, bei Kleinkindern, die zuhause betreut werden (die Betreuungsquote bei 0-3-Jährigen lag im Kitajahr 2013/2014 bei gerade einmal 40 %*) und bei den Erwachsenen. Wird das also für die Eliminierung der Masern in Deutschland reichen?
• Manche andere impfpräventable Erkrankungen, z.B. die Influenza oder HPV, töten mehr Menschen als die Masern. Dies stellt die Legitimation einer Impfpflicht für die Masern infrage.
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