Alle Jahre wieder, kommt das Christuskind. Weihnachten, wieder einmal. Die historische Genese des Weihnachtsensembles, vom Stall bis zu den drei Königen, sei einmal dahingestellt. Theologisch geht es bei Weihnachten um die Ankunft des Heils im Menschen, um die Erlösung des Menschen durch die Inkarnation (!) des Göttlichen im Menschen. Darüber lohnt es sich auch jenseits jeder kirchlichen Dogmatik nachzudenken. Wer hier länger mitliest, wird vielleicht bemerken: Bei dem Thema laufen meine Gedanken etwas im Kreis, alle Jahre wieder.
Schelling wird die Formulierung zugeschrieben, dass die Natur im Menschen ihre Augen aufschlägt und bemerkt, dass sie da ist. Auch hier ist vom Geistigen im Menschen die Rede. Wie das konkret zu verstehen ist, darüber lässt sich streiten. Alle Jahre wieder, auch da. Ich halte viel von der Position Thomas Nagels in seinem Buch „Geist und Kosmos“, dass uns vermutlich noch die richtigen Begriffe fehlen, um dieses Verhältnis zu verstehen. Harte Naturalisten tun sich schwer mit Thomas Nagels Sicht der Dinge, sie stoßen sich an seinen panpsychischen Spekulationen. Aber dass die Naturwissenschaft mit dem, was sie heute weiß, nicht am Ende ist, ist auch ihnen klar. Bekanntlich forschen die naturwissenschaftlichen Institute fleißig und mit großem Publikationsoutput vor sich hin. Die Frage ist nur, ob das nur ein additives Weiterhäkeln auf grundsätzlich vertrautem Terrain ist oder ob es eines Tages ein Augenaufschlagen im Lichte neuer Begriffe, eines neuen Verstehens gibt. Hier sollte man nicht vorschnell den Kopf schütteln. Angesichts einer Physik, die versucht, so exotische Dinge wie einen Urknall zu verstehen, schwarze Löcher, Paralleluniversen oder ein Blockuniversum, kann man vor Überraschungen nie sicher sein.
Dass noch mehr kommt, als sich unsere Schulweisheit heute träumen lässt, heißt allerdings nicht, dass alles möglich ist und wir genauso gut an Geister und Globuli glauben können wie an die Gravitation und die Quantenmechanik. Auch das Denken in Möglichkeiten muss ein kritisches Denken sein, wenn es sich nicht in Fantasy oder Esoterik auflösen soll.
Im Menschen schlägt die Natur die Augen auf. Vielleicht auch schon in der Weihnachtsgans und demnächst vielleicht auch im Laptop, darauf kommt es nicht an. Es geht darum, dass mit dem Augenaufschlagen eine reflexive Fähigkeit, eine Fähigkeit, in Gründen zu denken, in die Welt kommt, oder besser, in Erscheinung tritt. Und zwar in dieser Welt. Woher diese Fähigkeit rührt, da scheiden sich dann die Geister, aber man sollte die Fortschrittlichkeit der Weihnachtsgeschichte gegenüber alten Parallelweltvorstellungen nicht unterschätzen. Die Vernunft ist etwas in unserer Welt.
Schaut man sich in der Welt um, ist unübersehbar, dass sie gleichwohl nicht von Vernunft beherrscht wird. Man kann die Ereignisse in Syrien historisch erklären, aber kaum jemand wird behaupten, dass das Potential vernünftigen Handelns dort ausgeschöpft sei. Wir haben die Fähigkeit zur Vernunft, aber diese Fähigkeit ist ein zartes Pflänzchen in einem Garten, in dem sie leicht von anderen Triebkräften des Handelns überwuchert wird. Sie muss gepflegt werden. Sonst kann sie sich nicht entwickeln.
Im Garten der Vernunft sind wir selbst die Gärtner. Gemeinsam, und jeder für sich. Im Schnitt 80 Jahre hat jeder von uns, um die Vernunft zu hegen und zu pflegen, gegen Neid, Missgunst, Gier, Angst oder einfach nur Faulheit zum Denken, dem Unkraut, das im Garten der Vernunft so schnell alles zuwächst. Die Welt wird nicht von allein, durch historische Dialektik, zu einem besseren Ort. Wir müssen selbst dafür sorgen. Im Menschen schlägt die Natur ihre Augen auf, wenn wir die Augen aufmachen und nicht nur, wie Nietzsches letzte Menschen, das Korn der kleinen Vernunft im Auge, blinzeln: „Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern? – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht.“ Oder, um an Weihnachten noch einmal die Bibel zu bemühen (Psalmen 90; 9, 10): „Wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz. Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon“.
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