Hans-Werner Bertelsen ist vielen Leser/innen auf Scienceblogs als gelegentlicher Gastautor hier oder nebenan bei „Kritisch gedacht“ schon bekannt. Er ist Zahnarzt in Bremen und war u.a. vehementer Kritiker der Schirmherrschaft der Bremer Gesundheitssenatorin für den Homöopathie-Kongress vor zwei Jahren. In seinem aktuellen Gastbeitrag kritisiert er seine eigene Profession. Der Text ist ziemlich lang, aber noch länger ist die ungekürzte Version, die gerade auf Englisch im Blog von Edzard Ernst erschienen ist. Dort finden sich auch die Quellenangaben. Es gibt also ein eigenverantwortlich wahrzunehmendes Angebot: Lang mit Quellen auf Englisch, oder halblang ohne Quellen auf Deutsch.
Nachtrag: Man soll doch wirklich jeden Link erst prüfen, bevor man ihn setzt. Bei Edzard Ernst ist erst der erste Teil freigeschaltet, es soll ein Dreiteiler werden.
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Ganzheitliche Zahnmedizin
Hans-Werner Bertelsen
1. Projektionen – von Meridianen und CMD
Für Projektionen benötigt man in der Regel eine Leinwand. Zähne eignen sich ebenfalls hervorragend, um die Ursachen für somatische und /oder psychische Leiden hier zu deponieren und damit Projektionen auszulösen. Andere in Frage kommende Ursachen, wie etwa altersbedingte Abnutzungserscheinungen, eigenes Fehlverhalten oder eigene Fehlernährung können somit bequem verdrängt werden. Besonders negativ und auch sehr schädigend können Projektionen bei Patientinnen und Patienten wirken, die an einer Tumorerkrankung leiden. Projektionen können Tumorerkrankte dazu verleiten, Schuldgefühle zu entwickeln, obwohl oftmals keinerlei eruierbare Ursachen für eine Tumordiagnose verantwortlich sind. Durch projizierte Schuldgefühle kann der Gesundheitszustand negativ beeinflusst werden.
Im sogenannten „Meridiansystem“ werden den einzelnen Zähnen Beziehungsqualitäten zugeordnet. Demnach sollen sich unsere Zähne sowohl zu Körperorganen als auch zu einzelnen Entitäten in strenger Beziehung stehen. Demnach stehen Blasenentzündungen in Zusammenhang mit dem Zähnen Nummer 1, den Schneidezähnen. Rheuma ist mit den Zähnen der Nummer 8, den Weisheitszähnen, verknüpft. Dazwischen befinden sich die Zähne der Ordnungszahlen 2 bis 7, die, nach Oberkiefer und Unterkiefer, sowie nach Linksseitigkeit und Rechtsseitigkeit sortiert, eine Fülle von Möglichkeiten bieten, um klinisch häufig auftretende körperliche Beschwerden einem „schuldigen Zahn“ zuzuordnen. Aber nicht nur Organen wird eine geheimnisvolle Verbindung zu einem Zahn nachgesagt, sondern auch Gelenken, Wirbelkörperetagen, Sinnesorganen, Tonsillen und Drüsen – das ganze fein sortiert in zehn Gruppen und Untergruppen. Multipliziert mit der Anzahl der Zähne – jeweils acht in vier Quadranten, also 32 – ergeben sich somit für den „ganzheitlichen Zahnarzt“ 320 Möglichkeiten, körperliche Beschwerden von Asthma bis Zirrhose auf einen Zahn zu projizieren. Dass diese abenteuerliche These wissenschaftlich nicht bewiesen ist, stört die Glaubensanhänger dieses Projektionssystems nicht.
Die Möglichkeit, dass sich auf dem Wege der hämatogenen Verbreitung Keime in Organen ansiedeln können, gehört zum medizinischen Grundwissen. Daher sind konsiliarische Untersuchungen im Zusammenhang mit rheumatologischen Erkrankungen, Fieber unklarer Genese sowie Behandlungen im Bereich der orthopädischen Gelenkchirurgie richtliniengebundener und daher selbstverständlicher Standard. In der sogenannten „Alternativen Zahnmedizin“ werden diese allgemeingültigen Fakten nicht besonders erwähnt, vielmehr fokussiert man sich auf okkult anmutende Korrelationen, um einen verschworen und geheimnisvoll anmutenden Krankheitsbegriff für die Legitimation von meist invasiven Eingriffen zu benutzen. Dass dabei Synchronizitäten gerne als Kausalitäten fehlgedeutet werden, bleibt den allermeisten Patienten verborgen. Eine Blasenentzündung heilt in der Regel nach kurzer Zeit selbstständig aus – unabhängig davon, ob an den oberen Schneidezähnen gearbeitet wurde, oder nicht. Wurde in der Zeit der Abheilung jedoch ein Schneidezahn bearbeitet, so kann leicht die Abheilung der Blasenentzündung mit der Zahnbehandlung in Verbindung gebracht werden. Psychologisch betrachtet handelt es sich hierbei um eine simple Manipulationstechnik zum Zwecke der Darstellung einer scheinbar überlegen wirkenden Diagnostik. In Wirklichkeit verbirgt sich hier nur eine simple, weil leicht zu durchschauende Marketingstrategie. Dramatisch muten invasive Therapien an, die nach dubiosen, oftmals elektromedizinischen, Diagnoseverfahren durchgeführt werden, sie führen neben hohen Wiederherstellungskosten oftmals zur nachhaltigen Verstümmelung der Patientenkiefer und -gebisse.
Der „ganzheitlichen“ Theorienwelt des Meridiansystems angeglichen, existiert ebenfalls für viele Bereiche der Zahnmedizin in Zusammenhang mit einer CMD (Craniomandibuläre Dysfunktion) ein holistisch anmutendes Gedankengebäude. So werden Dysbalancen im Zusammenspiel von Kieferknochen und Kaumuskulatur für alle möglichen Erkrankungen verantwortlich gemacht. Laut eines selbsternannten „Dachverbandes CMD“ ist die CMD „eine Krankheit mit vielen Gesichtern“. Es sollen nicht nur Rückenschmerzen, Schwindel und auch Tinnitus von einer CMD möglicherweise induziert sein, sondern auch nächtliche Atemstörungen, Schnarchen, Schulter- und Nackenschmerzen, Hüft- und Knieschmerzen, Kopfschmerzen, Migräne, Sehstörungen, Stimmungsschwankungen und sogar Depressionen. Ein wissenschaftlicher Beleg für diese Behauptungen fehlt allerdings.
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