Gestern kam mein Kollege, Helmut Wicht (begeisterter Anatom und Schreibender, Autor des Blogs “Anatomsiches Allerlei”) , bei uns (Gertrud Klauer und mir) vorbei.
Andächtig und behutsam hielt er einen kleinen quadratischen Karton in den Händen: „Guckt mal, was ich hier habe!“

„Keine Ahnung. Was denn?“
Vorsichtig lüpfte er den Deckel.
Ich hielt trotz meiner Neugier einen gewissen Abstand, schließlich konnte alles Mögliche im Karton sein – von der lebenden Maus bis zum frischen Gehirn.
Helmut ist hirnanatomisch begeistert, da muss man mit allem rechnen.
Und tatsächlich: In dem unscheinbaren Karton lag ein menschliches Gehirn.
Schneeweiß und völlig geruchsneutral.

„Das ist das Hirn vom Edinger“ erklärte er stolz „Ein 3 D-Ausdruck!“
Der Denkapparat des Frankfurter Hirnforschers und Nervenarztes Ludwig Edinger!
Ich nahm den dreidimensionalen Ausdruck in die Hand – ganz schön schwer.
Dann standen wir zu dritt um das anatomische Artefakt herum.
Herrn Edingers Hirn hat hinten eine Einbuchtung: „Die Hinterhauptslappen klaffen auseinander. Das deutet darauf hin, dass es sich um das Gehirn eines Mannes handelt. Da sind die Hinterhauptslappen asymmetrischer und spitzer als bei Frauen-Hirnen.“ erklärte Helmut Wicht.
Eine geschlechtsdimorphe Besonderheit, deren Funktion oder Dysfunktion offenbar noch nicht erforscht ist.
Eine Steilvorlage für viele blöde Witze, die ich hier alle ignorieren werde.

Edinger war an der Goethe-Universität ein bedeutender Mann: Er hat u. a. den Stiftungsvertrag zur Gründung der Universität Frankfurt am Main mit unterzeichnet und wurde 1914 – im Eröffnungsjahr der Goethe-Universität – der erste Professor für Neurologie in Deutschland. 1902 gründete er das „Dr. Senckenbergische Neurologische Institut“, das bis heute besteht.

Edinger beschäftigte sich mit der vergleichenden Hirnanatomie und Psychologie, er hat bahnbrechende Forschungsarbeiten zu diesen Themen geleistet. Sein Ziel war die interdisziplinäre Forschung, Psychologie und Neuroanatomie, von Menschen und Tieren.
Der Hirnforscher Edinger starb am 26. Januar 1918 in Frankfurt am Main an einem Herzinfarkt und verfügte, dass sein Gehirn in seinem Institut seziert werden solle.
So kam es dann auch.

Die Oberfläche des reproduzierten Organs fühlt sich an wie poliertes Gestein.
„Was ist das für ein Material?“ wollte ich wissen.
„Das ist ein Polyamid, das Hirn ist im Laser-Sinter-Verfahren produziert worden.“ erläuterte Helmut.
Faszinierend.
„Außerdem ist es falsch aufbewahrt worden“ erzählte er weiter. „Es ist oben abgeplattet. Das Organ ist nach der Entnahme kopfüber in einen Topf mit Fixierflüssigkeit gesteckt worden und im Laufe der Zeit in dieser Position ausgehärtet. Um seine Form vollständig zu behalten, hätte es in dem Behälter mit Fäden so aufgehängt werden müssen, dass es in der Flüssigkeit frei schwebt.“

Wir halten also für die die Nachwelt fest:

  • Das Hirn des Herrn Edinger ist erhalten und wird demnächst in Kopie zum Ausstellungsexponat geadelt (Dazu in einem späteren Beitrag mehr).
  • Herr Edinger hatte gar kein abgeplattetes Gehirn.

Es war mir auf jeden Fall eine Ehre, den 3-D-Ausdruck vom Edinger-Denkapparat in den Händen halten zu dürfen.

Noch eine Bemerkung am Rande: Ludwig Edingers Tochter Tilly verschrieb sich ebenfalls der vergleichenden Hirnforschung und entwickelte das Konzept der Paläoneurologie: Sie erforschte fossile Gehirne – eine wirklich bahnbrechende Forschungsarbeit! (Lesen Sie dazu mehr in dem “puls.”-Beitrag über Tilly Edinger)

Bettina Wurche