Vor der südkalifornischen Küste, in den Tiefseegräben vor Monterey, leben ungewöhnliche Tiefsee- und Hochseegeschöpfe praktisch vor der Haustür des Monterey Bay Aquarium Research Institute (MBARI). Nun hat der MBARI-Meeresbiologe Rob Sherlock eine durchsichtige, mysteriöse und verschollene Lebensform wieder entdeckt: Bathochordaeus charon. Der „Fährmann des Todes“. Der deutsche Meeresbiologe Carl Chun hatte auf der legendären „Valdivia“-Tiefsee-Expedition 1898/99 das durchscheinend-gelatinöse Tier entdeckt und 1900, fern des Meeres an der Universität Leipzig, ordnungsgemäß erstbeschrieben. Er hatte den fragilen Organismus den Appendikularien (Appendicularia=Copelata=Larvaceae) zugeordnet, einer Tiergruppe, die im Plankton lebt.
Appendikularien sind kleine, frei schwimmende Manteltiere, die einen Schwanz mit Chorda tragen und meistens zwischen 1 bis 8 Millimeter groß werden. Sie gehören, gemeinsam mit den Manteltieren (Ascidien) und Salpen zu den Manteltieren (Tunicaten). Einer Tiergruppe, die einen bindegewebigen Stab namens Chorda dorsalis (auch Notochord oder Achsenstab genannt) ausbildet und irgendwie in den Beginn der Wirbeltiervorläufer mit hineingehört. Auch wenn sie weder Kopf noch Fuß besitzen und ihre Chorda meistens nach dem Larvalstadium wieder verlieren, sind sie also nähere Verwandte von uns als viele andere im Plankton lebende Organismen.
Der ausgezeichnete Taxonom Carl Chun hat sich vom ungewöhnlichen Erscheinungsbild und dem Schleimschleier nicht irritieren lassen und das Tier taxonomisch nüchtern beschrieben. Insgesamt hatte er zwei Exemplare aus dem Südatlantik und zwei kleinere aus dem Indischen Ozean gefangen. Er gab 8,5 Zentimeter Körperlänge an und als Fundort den Benguelastrom. Chun dachte damals, dass das unbekannte Tier aus der Tiefe des Meeres emporgestiegen war und benannte es darum nach dem Fährmann der Unterwelt: Bathochordaeus charon. Charon, der Chordaträger aus der Tiefe.
Seitdem hat nie wieder jemand den „Fährmann“ aus der Tiefsee gesehen.
Allerdings hatten in der Zwischenzeit einige Biologen über das mysteriöse Tier publiziert. Manche äußerten Zweifel an der richtigen Interpretation des Tieres, denn fragile Tiere können durch die Konservierung verändert werden, manchmal lässt sich auch ihre Größe nicht mehr korrekt rekonstruieren. Andere Autoren spekulierten über eine mögliche taxonomische Fehleinschätzung Chuns. So kam Garstang (1937, s. u.) zu der Einschätzung, dass zwei von Chuns vier Exemplaren einer anderen, noch unbeschrieben Art angehörten, und nannte sie Bathochordaeus stygius. Garstang war es auch, der die Tiere „veritable giants among Appendicularians“, deren Körper immerhin fast so groß war wie eine Walnuss. Im Laufe der Geschichte gingen Chuns Originale verloren und seine Beschreibung ließ sich nicht wiederholen.
Seit Chuns Fang auf der Valdivia-Expedition waren also keine Exemplare dieser „riesigen“ Appendicularien, Bathochordaeus charon, mehr gesichtet worden.
Nicht so ungewöhnlich, denn die zarten Wasserwesen sind fragil und erleiden durch den Staudruck in den Netzen oft Beschädigungen. Um ihre Überreste dann auch noch sicher zu erkennen, braucht es schon sehr viel Expertise und ein Quäntchen Glück am Netz, denn sonst ihre durchsichtigen Überreste der Wissenschaft verloren gehen.
Bis Rob Sherlock, der im Rahmen der großen Volkszählung des Meeres (World Registry of Marine Species) mit dem ROV nach Meerestieren Ausschau hielt, 2016 eine größere Schleim-Struktur entdeckte. Und als erfahrener Meeresbiologe die zarten gelatinösen Strukturen richtig zu deuten vermochte. Als riesige Appendicularie!
Die einzige bisher der Wissenschaft bekannte “riesige Larvaceae” war Bathochordaeus sp.
“When a particularly large larvacean came into view Sherlock asked the ROV pilots to stop and collect the animal. Back in the lab at MBARI, Sherlock took a closer look at the larvacean under a microscope. At about nine centimeters, it was exceptionally large. At first Sherlock was puzzled because it didn’t look right. Then he realized the animal was B. charon, and was thrilled. He went straight to Robison’s office, “We found B. charon. It exists!” Robison put down the paper he was reading, took a look…and agreed.” beschreibt Rob Sherlock in der Pressemitteilung seinen außergewöhnlichen Fund.
Die einzige bisher der Wissenschaft bekannten “riesige Larvaceae” war Bathochordaeus sp. Und seine Annahme war richtig. Dieser Fund war eine Sensation, die er und seine Kollegen dann auch prompt publizierten: “The first definitive record of the giant larvacean, Bathochordaeus charon, since its original description in 1900 and a range extension to the northeast Pacific Ocean” (s. u.). Sie fingen auch die ähnliche Art, Bathochordaeus stygius, und konnten beide Tiere aufgrund eindeutiger Merkmale im Körperbau und der Netze sauber auseinandersortieren.
Rob Sherlock hatte auch ein Quäntchen “Glück” oder vielmehr ein ausgezeichnetes Team: “At MBARI we are fortunate to be able to have very skilled pilots using modern ROVs and advanced sampling equipment,”.
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