Seit Anfang des Jahres 2017 gibt es an der nordamerikanischen Ostküste immer wieder Meldungen über ein massenhaftes Auftreten von Pyrosoma atlanticum.
Pyrosomen sind Tierkolonien aus frei schwimmenden Tunicaten (Manteltieren) und gehören zum gelatinösen Zooplankton. Jedes einzelne Tier (Zooid) ist eine kleine gelatinöse Walze mit buckliger Oberfläche. Im Innern der Feuerwalze – die bis zu bis zu 60 Zentimetern Größe erreichen kann – liegen die einzelnen Zooiden dicht an dicht gepackt aneinander. Ihre durchsichtige Körperwand besteht u. a. aus dem Polysaccharid Cellulose, was für Tiere sehr ungewöhnlich ist. Sie benutzen Flimmerhaare (Cilien) für die Atmung, zum Fressen und zur Fortbewegung. Die einzelnen Zooide sind, wie jedes Manteltier, innen hohl und haben eine Einström- und eine Ausström-Öffnung (Siphon). Mit einem Schleimnetz, das jedes Exemplar absondert, filtern sie kleines Plankton aus dem Wasser.
Sie können weder stechen noch nesseln, aber leuchten! Pyrosomen sind bioluminiszent, dieser Leuchtkraft verdanken sie den deutschen Namen „Feuerwalze“. Ihre Bioluminszenz verdanken sie ihren leuchtenden Endosymbionten, den Bakterien.
Tunicaten gehören zu den Chordaten, also zum gleichen Tierstamm wie die Wirbeltiere. Die Chorda dorsalis ist die Vorläuferstruktur der Wirbelsäule. Die letzten gemeinsamen Verwandten von Tunicaten und Vertebraten liegen allerdings im Dunkel des Erdaltertums verborgen.
Die Borg der Ozeane?
Jedes Pyrosom ist also eine ganze Tierkolonie, die gemeinsam durch den Ozean schwebt. Alle diese Tiere sind Klone und agieren gemeinsam, darum bezeichnen manche Wissenschaftler sie als Borg.
Die Borg sind eine Alien-Rasse aus dem Star Trek-Universum, die keine Individuen kennen, sondern deren einzelne Drohnen keine Klone sind, sondern gekaperte und assimilierte Individuen. Sie sind alle neural vernetzt und handeln auf Weisung ihres Kollektivs, manchmal auf Weisung einer Königin, konzertiert. Die Manteltiere hingegen sind körperlich aufs Engste miteinander verknüpft. Über ihre mentalen Fähigkeiten ist nichts bekannt, die Tiere haben nach Allem, was bekannt ist, ein eher reduziertes Sinnessystem. Ich finde den Vergleich zwischen Borg und Tunicaten nicht sehr geglückt und erwähne das hier nur der Vollständigkeit halber.
Wenn mehrere Pyrosome sich treffen, soll es auch zu sexuellen Fortpflanzung kommen.
Über ihre Naturgeschichte, den Lebenszyklus und ihr Verhalten ist wenig bekannt.
Genauso wenig wie über ihre Rolle im marinen Ökosystem. Oder ihre mentale Leistungskraft.
Pyrosome machen Furore
Pyrosoma atlanticum ist im östlichen Nordpazifik und an der US-Westküste nicht unbekannt, die Tiere kommen regelmäßig vor. Seit zwei Jahren sind sie häufiger. Mittlerweile sind sie eine Invasion, die sogar stellenweise die Fischerei zum Erliegen bringt. Von Oregon über British Columbia bis nach Alaska.
Doch der Reihe nach…
Am 22. Februar berichtete der Newportal Blog (NOAA) über ein ungewöhnliches Massenvorkommen von Pyrosoma atlanticum:
“But on our recent trip aboard the Bell M. Shimada, pyrosomes seem to be everywhere! We have been getting numerous specimens in our three different sampling gears: vertical net, Bongo net, and Beam trawl. At one of our nearshore stations, the Beam trawl brought up 2.5 gallons of pyrosomes (Fig. 3)! We were also lucky to encounter a large aggregation at the surface on the Newport Line transect. This anomalous abundance of pyrosomes has been observed in other research cruises along the West coast. A long-term time series in the California Current saw the highest catches ever of Pyrosoma atlanticum in 2015. Pyrosomes have been mystifying beachcombers up and down the coast as they wash up on beaches. These gelatinous organisms join a list of other gelatinous zooplankton, such as Aequorea spp., Doliolids, and the pteropod Corolla spectabilis, that have been seen in large numbers over the past few years.”
Auch wenn über diese Tunicaten-Kolonien wenig bekannt ist, steht fest: Sie können schnell wachsen. Mit ihrer Filterleistung könnten viele und große Pyrosomen einen signifikanten Einfluß auf eine Algenblüte nehmen.
Da sie den Wissenschaftlern mehrerer Forschungsinstitute sämtliche Netze und Fangvorrichtungen gefüllt oder sogar verstopft haben und einen erheblichen Einfluß auf die Fischerei nehmen, sind sie jetzt in den Fokus der Meeresbiologen geraten. „I’m guaranteeing this isn’t the last you’ve heard of Pyrosoma atlanticum. Stay tuned!” schrieb Samantha Zeman am 22. Februar 2017 im Newportal Blog (NOAA).
Hier ist ein Video eines schwimmenden Pyrosoms (Video by Patrick Anders Webber, via “The Marine Detective” )
Im April widmete der Blog „The Marine Detective“ den Pyrosomen einen langen Artikel mit Bildern und einem Video. Die Bilder sind besonders interessant, denn sie zeigen die gestrandeten Manteltiere, deren Gewebe ohne ihren pneumatischen Druck des Wassers in sich zusammenfallen.
Ein gestrandetes Pyrosom sieht aus wie ein …widerlicher kleiner Gummiartikel. Mit Noppen. Benutzt.
“Call it the invasion of the pyrosomes”
Im Juni schrieb Michael Milstein auf dem Blog des Northwest Fischery Science Center (NOAA) bereits von einer Invasion der Pyrosomen.
Die Wissenschaftler des NOAA Fisheries’ Northwest Fisheries Science Center sind jetzt gemeinsam mit ihren Kollegen der Oregon State University und der University of Oregon auf der Suche nach Erklärungen. Bei einem fünfminütigen Schleppnetz-Hol im freien Pelagial (Midwater tow) vor der Mündung des Columbia River Ende Mai gingen schätzungsweise 60.000 Pyrosomen ins Netz. Die Meeresforscher brauchten Stunden, um die wenigen Fische in der Masse dieses gelatinösen Planktons heraus zu sortieren. “We have a lot of questions and not many answers,” sagte Ric Brodeur vom Northwest Fisheries Science Center in Newport, Oregon. Brodeur arbeitet seit den 80-er Jahren in dem Meeresgebiet vor der Küste Oregons und hat dort 2014 das erste Mal Pyrosomen gesehen.
Ein Unterwasser-Video des NOAA-Forschungsschiffes “Bell M. Shimada” zeigte im Mai Massen von Pyrosomen in hoher Dichte 40 bis 200 Meilen vor der Küste Oregons. Die einzelnen Tiere waren meist zwischen 4-6 Zentimeter, manchmal auch bis zu 78 Zentimetern lang. Bei ihrer Kamerafahrt entdeckten die Forscher, dass der gelatinöse Pyrosomen-Teppich bis in 100 Meter Tiefe reichte.
Mittlerweile ist die Menge der Pyrosomen so flächendeckend hoch, dass sie eine massive Beeinträchtigung der Fischerei sind. Sie verstopfen die Netze und sogar die Haken der Garnelen- und Lachsfischer von Nordkalifornien bis nach Südalaska.
Pyrosomen, El Nino und der Klimawandel
Im Nord- und Südpazifik ist 2015 und 2016 eine ganze Menge passiert. Der Ozean war deutlich wärmer als sonst, El Nino war wesentlich ausgedehnter und länger anhaltend als bisher.
Die Satellitenüberwachung aus dem Weltall ergab ausgedehnte Warmwasserkörper – NOAA bezeichnete sie als Blob – , die sich vom Äquator bis tief in die hohen Breiten des Nord- und Südpazifik vorschoben. El Nino ist zwar kein ganz neues Phänomen, in dieser Stärke und Ausdehnung war er allerdings ungewöhnlich, verschiedene wissenschaftliche Institutionen wiesen darauf hin, dass diese starke Ausprägung des El Nino äußerst wahrscheinlich durch den Klimawandel und die allmähliche Ozeanerwärmung beeinflusst wurde und weiterhin werden wird.
Die Erwärmung des Ozeans hatte u. a. zu einer Massenblüte von giftigen Rotalgen geführt, eine sogenannte Harmful Algal Bloom oder Red Tide – Rote Flut.
Die Giftalgen führten auch zu Massensterben von Walen: Über 30 tote Buckelwale strandeten an den Küsten Alaskas, über 330 tote Seiwale wurden in den Fjorden der chilenischen Küste gezählt. Bei den Seiwalen ist der Kontext zur Giftalgenblüte mittlerweile als sehr wahrscheinlich nachgewiesen (Häussermann V, Gutstein CS, Bedington M, Cassis D, Olavarria C, Dale AC, Valenzuela-Toro AM, Perez-Alvarez MJ, Sepúlveda HH, McConnell KM, Horwitz FE, Försterra G. (2017): „Largest baleen whale mass mortality during strong El Niño event is likely related to harmful toxic algal bloom“. PeerJ 5 : e3123
Wenn nun ausgerechnet in diesem Zeitraum die Anzahl einer zwar vorhandenen, aber zahlenmäßig eher beschränkten Tiergruppe extrem zunimmt, liegt es nahe, dass es einen Zusammenhang geben könnte.
Allerdings kühlt sich der Ozean jetzt wieder ab und die Winde sind wieder günstiger.
Die Wissenschaftler suchen im Moment fieberhaft nach Daten und Erklärungen. Leider sind Tunicaten keine sehr gut erforschte Tiergruppe.
Fest steht: Sie sind Filtrierer und “grasen” pflanzliches Plankton (Fälschlicherweise hatte ich hier zunächst Zooplankton geschrieben – BW 2017_06_27).
Offenbar hat der Warmwassereinbruch ihre Vermehrung angeregt. Ob es nun das massenweise auftretende Plankton war – schließlich folgt auf ein starkes Algenwachstum auch ein starkes Zooplanktonwachstum – oder die hohen Temperaturen sie zur Fortpflanzung angeregt haben, oder es vielleicht noch einen anderen Zusammenhang gibt, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein Biologe sagen.
Außerdem haben die Feuerwalzen ihre Bioluminiszenz verloren, der sie ihren Namen verdanken: „pyro“ (griech.: Feuer) und „soma“ (griech.: Körper). Dass die Geleewalzen an der Küste Oregons nicht mehr magisch leuchtend, könnte daran liegen, dass sie dafür nicht die richtigen Bakterien zur Verfügung haben. Die brauchen sie nämlich dafür.
Während die Tunicaten-Kolonien massenhaft auftreten, fehlen andere Meeresbewohner, die normalerweise dort vorkommen sollten. Wie die Segelqualle Velella velella, eine Qualle, die, angetrieben von einem Segel, auf der Meeresoberfläche dahinsegelt und driftet. Die Strukturfarben auf ihrer Oberfläche glänzen in Blau- und Violett-Nuancen. Diese Färbung ist die typische Tarnfarbe von Neuston und Pleuston, dem Plankton in der Meeresoberfläche. In der Vergangenheit kam Velella in solchen Mengen vor Oregon vor, dass sie manchmal mit ähnlich glänzenden Ölteppich verwechselt wurde und die Küstenwache ausrückte, um nach einem vermeintlich gesunkenen Schiff zu suchen.
In diesem Jahr gibt es keine Segelquallen.
Nur Pyrosoma atlanticum.
Dabei kehrt nach zwei viel zu warmen Jahren vieles im Ozean wieder zur Normalität zurück: “Everything else seems like it’s getting back to normal,” sagte Caren Braby im Interview “We have cold, nutrient-rich water, we have upwelling, we’re starting to see krill again. All of these things that have been absent over the last few years, but now we have pyrosomes.”
Ich bin gespannt, wie es im östlichen Nordpazifik weitergeht.
Auch gespannt bin ich, wann die Feuerwalzen-Welle auch in die deutschen Medien schwappt. Der National Geographic hatte im Juni einen großen Artikel dazu, der jetzt zumindest schon in England zitiert wird, z. B. beim UK Cetacean Stranding Network.
Wie Samantha Zeman sagte: “Stay tuned!”
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