Für viele epidemiologische Fragestellungen, z.B. zur Entstehung seltener Krankheiten, braucht man Studien mit großen Fallzahlen. Derzeit wird in Deutschland eine Kohortenstudie mit wirklich großen Fallzahlen vorbereitet: die Nationale Kohorte.

200.000 Menschen im Alter von 20 bis 69 Jahren sollen untersucht werden. Dabei werden auch Blutproben für spätere Analysen entnommen und eingelagert. Bei 40.000 Personen wird ein Ganzkörper-MRT erstellt und ebenfalls für spätere Auswertungen archiviert. Allein der Aufbau der Infrastruktur der Nationalen Kohorte in den nächsten 10 Jahren kostet mehr als 200 Mio. Euro – die Auswertungen kosten extra. Hier geht es also um ein richtig großes Projekt, in den Gesundheitswissenschaften werden in Deutschland normalerweise deutlich kleinere Brötchen gebacken. Natürlich spielen dabei auch die Versprechen der “individualisierten Medizin” eine Rolle: Man hofft, durch genetische Untersuchungen das gesundheitliche Schicksal der Menschen besser vorhersagen zu können, um ihnen maßgeschneiderte Therapien anzubieten. Ob diese Hoffnungen erfüllt werden, bleibt abzuwarten, bisher besteht die individualisierte Medizin vor allem aus Ankündigungen, wenn auch faszinierenden Ankündigungen. Aber auch davon abgesehen kann die Nationale Kohorte ein großer Wurf mit wegweisenden wissenschaftlichen Ergebnissen werden.

Eine interessante Fragestellung bei dieser Studie ist, wie man gegenüber den Probanden mit den Befunden umgeht, die z.B. im Ganzkörper-MRT oder den Analysen der Blutproben auftauchen. Anders als bei der gezielten Suche nach einer bestimmten Krankheit können dabei ja irgendwelche Befunde festgestellt werden, auch Befunde durch Untersuchungsmethoden, die heute noch gar nicht absehbar sind. Das muss man durch eine gerichtsfeste Einverständniserklärung der Probanden regeln. Wenn man Befunde, vielleicht auch nur die ernsten Befunde, den Probanden mitteilt, entsteht Abklärungs- und ggf. Behandlungsbedarf, es können gesundheitliche Schädigungen auftreten. Bei nicht behandelbaren Krankheiten müssen die Menschen mit ihrem Befund leben (und bei behandelbaren Krankheiten haben Behandlungen übrigens Folgen für die Interpretation der Studienergebnisse). Wenn man den Probanden die Befunde nicht mitteilt, hat man das ethische Dilemma, dass man der Entstehung von Krankheiten zuschaut, die man in vielen Fällen verhindern könnte. Kein einfaches Problem. Ob die zuständigen Ethikkommissionen das ausreichend bedacht haben? Vielleicht wäre angesichts der besonderen Rolle der Nationalen Kohorte hier auch einmal eine Stellungnahme des Nationalen Ethikrats angesagt?

Kommentare (16)

  1. #1 Michael
    3. Dezember 2011

    Man muss doch da bestimmt zustimmen. Die Teilnahme ist also freiwillig? Hat das keine Auswirkungen auf die Stichprobe, bzw. die möglichen Hypothesen?

  2. #2 Ludger
    3. Dezember 2011

    Das soll ja noch viel umfangreicher werden als die Framingham-Studie ( https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/herz/tid-11208/kardiologie-die-beruehmteste-herzstudie-der-welt_aid_314780.html ) oder die Krankenschwesternstudie ( https://de.wikipedia.org/wiki/Krankenschwesternstudie ). Ein heres Ziel. Bisher sind mir solche großen Studien aus Deutschland nicht bekannt. Dafür machen wir Brustkrebs-DMP, mit statistischer Auswertung, aber nur bei Versicherten der GKV und nur 5 Jahre lang. Haben wir eigentlich inzwischen ein Nationales Krebsregister?

  3. #3 Joseph Kuhn
    3. Dezember 2011

    @ Michael: Die Teilnahme ist selbstverständlich freiwillig. Ob sich Teilnehmer/innen und Nichtteilnehmer/innen im Hinblick auf studienrelevante Merkmale unterscheiden, muss bei jeder Studie geprüft werden (Stichwort “Nonresponder-Analyse”), in dieser Hinsicht stellt die Nationale Kohorte keine Besonderheit dar. Die Frage ist vielmehr, in was willigen die Teilnehmer/innen hier eigentlich konkret ein, wenn bei den Untersuchungen alles mögliche herauskommen kann? Heute oder in 10 Jahren? Wie soll man die Teilnehmer/innen hinreichend informieren, dass sie darüber eine verantwortliche Entscheidung treffen können? Und was ist, wenn sie es sich nach einiger Zeit anders überlegen, weil ihnen klar wird, dass sie nicht wussten, was da alles herauskommen kann? Oder, falls sie auf eine Befundübermittlung verzichtet haben, beim Auftreten einer Erkrankung nach Jahren doch wissen wollen, ob man “damals” schon etwas sehen konnte und ob die Erkrankung zu vermeiden gewesen wäre.

    @ Ludger: Wir haben zwar kein Nationales Krebsregister, aber inzwischen eine weitgehend flächendeckende Krebsregistrierung in den Ländern und ein “Zentrum für Krebsregisterdaten” beim RKI, um die Registerdaten bundesweit zusammenzuführen.

    Statistische Auswertung der DMP: Das ist eine andere Baustelle, Ausgangspunkt sind dort ja behandelte Patient/innen mit bekannter Diagnose.

  4. #4 BreitSide
    3. Dezember 2011

    Tolle Sache das. Und offensichtlich längst überfällig.

    Freut mich sehr, dass wenigstens was Ähnliches wie das deutsche Krebsregister aufgebaut wurde. Das Saarland allein ist halt doch etwas klein…

    Wird man da ausgesucht oder kann man sich da melden?

    Ich dachte ja, dass bei Sowas der Ethikrat sowieso dabei ist? Diese Fragen nach Mitteilung und Behandlung von Gesundheitsstörungen sind doch bei jeder Studie relevant?

    Aber bitte jetzt keine Diskussion über die Zusammensetzung des Ethikrats…(duckundwech)

  5. #5 Joseph Kuhn
    4. Dezember 2011

    @ BreitSide: Man wird über eine Zufallsstichprobe aus der Bevölkerung der Studienregionen ausgesucht, Selbstselektionseffekte sollen vermieden werden. Details kann man im wissenschaftlichen Konzept der Nationalen Kohorte nachlesen (Vorsicht: hinterlegt ist eine 8 MB pdf).

    Ethikrat: Medizinische Studien benötigen ein Votum einer Ethikkomission, das sind an Universitäten oder Kliniken angesiedelte Gremien. Der Nationale Ethikrat nimmt entsprechend seiner Bestimmung nach Ethikratgesetz Stellung zu Grundsatzfragen der Ethik in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Solche Grundsatzfragen wirft die Nationale Kohorte m.E. in der Tat auf.

  6. #6 segeln141
    4. Dezember 2011

    @JK und @Breitside

    ich bin mal so optimistisch,dass die Initiatoren der Studie das Problem der Mitteilung von pathologischen Befunden überdacht und gelöst haben.

    Im übrigen sind Ansätze einer “individualisierten Therapie” im Bereich der Onkologie bereits vorhanden.

    lieber Breitside,bitte nicht anmelden,die Ergebnisse Deiner Untersuchung würden den Rahmen sprengen 😉 😉

  7. #7 Joseph Kuhn
    4. Dezember 2011

    @ segeln141: Ob der Optimismus gerechtfertigt ist oder nicht, ist eben die Frage. Vor nicht allzu langer Zeit ist in der Schweiz eine deutlich kleinere Studie, die sog. “Sesam-Studie”, u.a. an Widerständen gegen geplante genetische Untersuchungen gescheitert. Die Brisanz solcher Aspekte der Studienplanung ist offensichtlich nicht zu unterschätzen.

  8. #8 Dagda
    4. Dezember 2011

    @ Segeln141
    Naja pathologische Befunde sind ja das eine; Solange sicher ist was man z.B. auf MRT Bildern sieht, sieht die Sache einigermaßen eindeutig aus; Meinetwegen ein eindeutiges Bronchial-CA oder ein Aneurysma der abdominellen Aorta, oder ähnliches; Das sind eindeutige Befunde, die einer eindeutigen Behandlung bedürfen, soetwas wird in den meisten Studien; fMRT und ähnlichen den Patienten mitgeteilt und dann halt behandelt.
    Aber was ist mit unklaren Befunden? Also irgendwelchen Auffälligkeiten, bei denen eben nicht klar ist was es jetzt genau ist oder ob etwas getan werden muss; Meinetwegen eine einzelne nicht typisch gelegene Hyperintensität im cMRT oder eine vergrößerte Hypophyse bei einem ansonsten völlig unauffälligen Menschen oder Signalveränderungen in der Leber oder im Pankreas oder ähnlichem? Was dann? Das ist ethisch und juristisch schwieriger zu fassen und bei 40.000 Ganzkörper-MRTs bei GEsunden werden da bestimmt hunderte unklare Befunde zu finden sein (Immer hin ist das einer der Gründe warum GanzkörperMRTs nicht zur Routine-Diagnostik gehören)

  9. #9 segeln141
    4. Dezember 2011

    @JK

    die freiwilligen Probanden werden doch über etwaige genetische Untersuchungen informiert und geben ihr Einverständnis.

    Aber es ist schon richtig,dass man über eine evtl. Blockade von Teilnehmern nachdenkt ,
    die genetischen Untersuchungen ablehnend gegenüberstehen.

    Ich hätte kein Problem,da mitzumachen.

    Aber halt,dann würde ich ja evtl. Breitside treffen 😉 😉

  10. #10 segeln141
    4. Dezember 2011

    @Dagda

    das Problem mit unklaren Befunden habe ich bei jeder Untersuchung,so natürlich auch bei Früherkennungsuntersuchungen.

    Dann wird eben,wie der Betroffene es wünscht,abgeklärt oder engmaschig kontrolliert.

    Das Problem gerade bei MRT`s ist bekannt,doch die aus der Kohortenstudie zu gewinnenden neuen Erkenntnisse sind doch eine Chance.

    Bei richtiger Aufklärung der Probanden glaube ich nicht an ethisch-juristische Schwierigkeiten.

    Die Studie muss eben sorgfältig geplant sein.

  11. #11 Dagda
    4. Dezember 2011

    @ Segeln141
    Aber das ist doch genau der springende punkt. Eine juristisch und ethisch einwandfreie Aufklärung, wohl wissend, das man bei dieser Vermutlich lange laufenden Kohorte, nicht wirklich abschätzen kann, was alles passieren kann;

  12. #12 segeln141
    4. Dezember 2011

    @Dagda

    wohl wissend, das man bei dieser Vermutlich lange laufenden Kohorte, nicht wirklich abschätzen kann, was alles passieren kann;

    Ich kommentiere das einfach mal aus der Sicht ,dass ich in der Studie drin wäre:

    Erstens:LIfe is risky und ich weiß nie was mir mal zustossen wird/was alles passieren kann.

    Zweitens:über ein lang anhaltendes Monitoring meines Gesundheitzustandes würde ich mich sehr freuen.

    Drittens: Eine Exit-Möglichkeit könnte man doch in der Studie implementieren,sodaß ich
    hinsichtlich meiner Entscheidungsfreiheit nicht eingeschränkt wäre.

    Ob der letzte Punkt in einer solchen Studie zu realisieren ist,vermag ich nicht zu beurteilen,da ich kein Epidemiologe bin.

    Aber wir sind uns beide ja einig in der Notwendigkeit einer sorgfältigen Planung.

  13. #13 BreitSide
    4. Dezember 2011

    Hehe, segeln 141, dann lass ich mich halt später aufschnipseln…

    Ich denke ja nicht, dass Aussteiger ein Problem sein sollen. Die gibt es ja immer, und zwingen kann man ja wirklich keinen. Das wissen die Studiendesigner garantiert.

  14. #14 segeln141
    4. Dezember 2011

    @Breitside

    bin beim Aufschnipseln sofort zu Diensten 😉 😉

  15. #15 MoritzT
    4. Dezember 2011

    Aussteiger werden in den meisten (guten) Studien so ausgewertet, als seien sie nach wie vor in der ursprünglich zugeteilten Gruppe. Bei randomisiert kontrollierten Studien wird also ein Patient, der ausscheidet, normalerweise als Therapie”Versager” gewertet. Man nennt diese Strategie Intention-to-treat-Analyse. Liegt daran, dass in vielen Studien Patienten wegen starker Nebenwirkungen oder wegen Nichtansprechen ausscheiden und die Nebenwirkungen/das Nichtansprechen ansonsten unterschätzt würden.

    Bei der nationalen Kohorte würde ein Ausscheiden wahrscheinlich als lost-to-follow-up (LTFU, keine Nachverfolgung) gewertet und die Patienten dann entweder nur für den Zeitbereich, in dem sie teilgenommen haben gewertet, oder grundsätzlich von Anfang an aus der Auswertung ausgeschlossen. Beides ist für die Datenbasis manchmal kritisch, aber grundsätzlich machbar. In einigen Kohortenstudien, insbesondere den datenbankbasierten (historischen) Kohortenstudien, ist LTFU sogar ein statistischer Endpunkt. Gibt’s häufiger in der Unfallchirurgie/Orthopädie, weil die Interventionen Effekte über viele Jahrzehnte haben und man selten so lange warten kann und zugleich das Risiko für ein LTFU einfach von allein groß wird, weil geheilte Patienten nicht mehr wegen dieser Erkrankung zum Spezialisten gehen und deswegen auch seltener statistisch zu erfassen sind.

  16. #16 segeln141
    4. Dezember 2011

    @MoritzT

    Danke für die Erläuterung,was in derartigen Studien mit Aussteigern/Abbrechern geschieht.

    Gut zu wissen,dass Aussteiger(zumindest bis zu einer gewissen Anzahl) die gesamte Studie nicht gefährden.