Dass sich Ökonomie und Soziales nicht immer harmonisch zusammenfügen, ist kein Geheimnis. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen Ökonomie und Sozialmedizin – Sozialmedizin hier sehr weit verstanden als Gesamtheit der gesellschaftlichen Aspekte der Gesundheit, von der gesundheitsgerechten Gestaltung der Arbeit über Aufklärungskampagnen bis zur Organisation der sozialen Sicherungssysteme. Wissenschaftlich wird darüber in ganz verschiedenen Zusammenhängen diskutiert, u.a. in den einschlägigen Fachgesellschaften. Nächste Woche beginnt in Essen die diesjährige Jahrestagung einer solchen Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention.
Das Leitthema der Tagung lautet: „Gesundheitsökonomie versus Sozialmedizin“ – ohne Fragezeichen am Ende. Das Fragezeichen kommt erst im Untertitel: “Wie viel Ökonomisierung verträgt ein solidarisches Gesundheitssystem?” Auf der Tagung werden Sigrid Stöckel von der Medizinischen Hochschule Hannover, Gabriele Moser von der Universität Heidelberg und ich einen medizinhistorischen Workshop dazu moderieren. Der Dortmunder Sozialhistoriker Eckart Reidegeld wird den historischen Einführungsvortrag halten und der Berliner Gesundheitsökonom Hartmut Reiners die Situation aus aktueller Perspektive kommentieren.
Aus historischer Sicht ist es nämlich gar nicht so selbstverständlich, dass Sozialmedizin und Ökonomie so konträr zueinander ins Verhältnis zu setzen sind, wie wir das heute meist ganz spontan annehmen. An der Wiege der Sozialmedizin im 18. Jahrhundert standen vielmehr selbst ökonomische Motive. Die Sozialmedizin entwickelte sich, als die Fürsten den Wert einer gesunden Bevölkerung für die Machtentfaltung ihrer Länder entdeckten. Große Sozialmediziner wie Johann Peter Frank oder Max von Pettenkofer haben immer auch ökonomisch argumentiert. Die hygienische Stadtsanierung war für Pettenkofer nicht zuletzt ein volkswirtschaftliches Gebot. Sozialmedizinisches Handeln galt als ökonomisch vorteilhaft. Umgekehrt wurde vom „ökonomisch Vorteilhaften“ aus aber im 20. Jahrhundert auch die Ausgrenzung der Schwachen begründet. Der Psychiater Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding argumentierten in ihrem Buch “Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens” im Jahr 1920 über weite Strecken ökonomisch: Man könne es sich nicht mehr leisten, die “Ballastexistenzen” durchzufüttern, die Kosten seien zu hoch. Die ökonomische Relevanz der Sozialmedizin markiert also zugleich ihre Anschlussfähigkeit für antihumanistische Positionen bis hin zur Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Das „Ökonomische“ vertritt hier bestimmte Gruppeninteressen gegen das Individuum – wobei die Gruppeninteressen im Gewande des Allgemeininteresses auftreten: „Wir“ können „uns“ die Versorgung der Schwachen nicht mehr leisten, heißt es dann. Zumindest die Schwachen sind mit diesem „wir“ wohl nicht gemeint.
Und heute? Verbirgt sich in den utilitaristischen Abwägungen der Gesundheitsökonomie nicht auch die Gefahr einer Überwältigung des Individuums durch kollektive Interessen, und auch hier: durch die Interessen bestimmter Gruppen? In aller Munde sind die angebliche “Kostenexplosion im Gesundheitswesen” oder die “Ausgabenkatastrophe durch die Alterung der Gesellschaft”. Die Frage danach, ob “wir” uns die Versorgung der kranken Alten noch leisten können, liegt sie nicht nahe? Im Februar 2012 hat die Rating-Agentur Standard & Poor´s folglich auch davor gewarnt, wenn die Gesundheitsausgaben in den Industrieländern weiter so anstiegen, würde kein Land mehr eine Triple-A-Bewertung bekommen: Verlust der Kreditwürdigkeit im Falle sozialmedizinischer Verantwortung sozusagen. Wir hatten dies auch schon hier auf Gesundheits-Check diskutiert.
Ist mit dieser Gegenüberstellung das Verhältnis zwischen Sozialmedizin und Ökonomie auf den Begriff gebracht? Oder ist das eine Sichtweise, die durch das Tragen einer Scheuklappe bedingt ist? Müsste man, in Wiederaufnahme der Anfänge der Sozialmedizin, nicht stärker auch danach fragen, welchen Nutzen sozialmedizinisches Engagement mit sich bringt, welche Art von Ökonomie die volkswirtschaftlichen Effekte sozialmedizinischen Engagements angemessen bewertet und was das für die Anwendung ökonomischer Kalküle im Gesundheitswesen bedeutet? Es scheint, als ob es historisch eine Blickverschiebung gegeben hätte, von Fragen nach der gesellschaftlichen Produktion und der gesellschaftlichen Produktivität der Gesundheit hin zur Frage, wie die Kosten in der Krankenversorgung aufzubringen und zu verteilen sind.
Wer sich das Programm der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention einmal ansehen will, kann es hier tun: https://www.dgsmp.de/index.php/jahrestagung/essen-2012. Ich bin gespannt, was dort an Ideen und Diskussionen zum Zusammenhang von sozialmedizinischem und ökonomischem Denken kommt – und ob sich auch ein paar Leute für die medizinhistorische Entwicklung dieser Fragestellung interessieren, die im Mittelpunkt unseres Workshops steht.
Und wer will, kann das Kongressthema hier schon etwas vordiskutieren.
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