… nennt Felix Hasler seine „Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung“. Hasler hat Pharmazie studiert und ist an der Berlin School of Mind and Brain der Humboldt Universität tätig. Mit seinem Buch will er zeigen, dass die Hirnforschung gegenwärtig Ansprüche geltend macht, die sie in keiner Weise einlösen kann: Sie gibt vor, das „Denken“ physiologisch erklären zu können, ebenso wie das Bewusstsein, die Sache mit der Willensfreiheit will sie ohnehin schon gelöst haben – alles nur eine Illusion -, den Juristen macht sie deutlich, dass Begriffe wie Schuld und Verantwortung hirnphysiologisch gesehen ganz obsolet sind und uns allen verspricht sie, dass die Erklärung der Hirnvorgänge auch medizinisch ein neues Kapitel aufschlagen wird.
Felix Hasler beginnt sein Buch mit dem Hinweis darauf, dass die neuro sciences beginnen, zur Leitwissenschaft der nächsten Jahre zu werden. Nicht nur Fächer wie die Psychologie werden neurofiziert, sondern überall, von der Kunstgeschichte über die Politikwissenschaften bis hin zur Ökonomie entwickeln sich Neuro-Ableger. Die Jahrestagung 2005 der Society for Neuroscience sei mit 35.000 Neurowissenschaftlern der größte Wissenschaftskongress aller Zeiten gewesen. Gehört die Zukunft also den Neurowissenschaften? Felix Hasler beantwortet diese Frage mit einem ganz klaren Nein.
Er beginnt seine Kritik damit, dass die bildgebenden Verfahren der Hirnforschung, mit denen man scheinbar dem Hirn beim Denken zusehen kann, gar nicht in der Lage seien, Emotionen oder Denkvorgänge einigermaßen verlässlich abzubilden. In der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) würde schließlich nur danach geschaut, wo sich im Gehirn in Korrelation mit dem Erleben oder Verhalten der Probanden Blutfluss und Sauerstoffverbrauch ändern. Dies suggeriere, man hätte die hirnphysiologischen Korrelate der jeweiligen Erlebnisse oder Verhaltensaspekte auch nachgewiesen, was aber nicht der Fall sei. Vielmehr sei oft unklar, wie fMRT-Signale zu interpretieren seien und Fehler an der Tagesordnung. Natürlich fehlt auch die fast schon legendäre Story vom toten Lachs in Haslers Buch nicht: Vor ein paar Jahren hatten Hirnforscher einen Hirnscan bei einem toten Lachs durchgeführt, dem Fotos mit Menschen in unterschiedlichen Situationen gezeigt wurden. Das tote Lachshirn zeigte im Scan auffällige Aktivitäten. Grund dafür waren aber nur fehlende statistische Korrekturen der Daten – Korrekturen, die allerdings auch in den Humanexperimenten oft unterbleiben, so Hasler unter Verweis auf methodenkritische Studien. Hinzu kommen fehlende Versuchswiederholungen, der Mangel an Objektivierungsmöglichkeiten für Befunde und anderes mehr. Auch auf die berühmten Experimente von Benjamin Libet geht Hasler ein. Libet entdeckte vor 30 Jahren, dass hunderte von Millisekunden vor der bewussten Entscheidung der Probanden, eine Bewegung auszuführen, im Gehirn bereits ein sog. „Bereitschaftspotential“ feststellbar war. Die kausale Interpretation, dass das Bereitschaftspotential die spezifische Bewegungsentscheidung verursacht, war von Anfang an umstritten, neuere Experimente verstärken die Zweifel an dieser Interpretation. Bildgebende Verfahren haben an solchen Interpretationsproblemen nicht viel geändert, Vorsicht ist auch hier geboten. Sind bildgebende Verfahren also eher „weltbildgebende Verfahren“, wie Hasler unter Rückgriff auf eine Formulierung der Philosophin Petra Gehring schreibt?
Das größte Kapitel des Buches beschäftigt sich mit den medizinischen Heilsversprechen der Hirnforschung und den klinischen Realitäten. Hasler erinnert daran, dass vor einigen Jahren die Genforschung genauso vollmundig gestartet sei und die Befreiung der Menschheit von allen möglichen Übeln, vom Krebs bis zum Altern, in Aussicht stellte. Bis heute aber gäbe es praktisch keine Gentherapien. Die medizinische Seite der Hirnforschung geht Hasler naheliegender Weise von der Psychopharmakologie her an. Er zeigt, wie sehr die Entwicklung von Psychopharmaka bis heute von Versuch und Irrtum geprägt ist, dass eher der Zufall als die geplante Suche zur Entdeckung wirksamer Psychopharmaka führt und dass man bis heute eigentlich die Wirkungsweise vieler Psychopharmaka nicht versteht. Es einmal dahingestellt, ob Antidepressiva tatsächlich die negativen Langfristfolgen haben, die Hasler ihnen zuschreibt (Veränderungen des Hirnstoffwechsels mit einer Provokation bipolarer Störungen), aber auf jeden Fall mahnt der Zustand der Psychopharmakologie zur Vorsicht gegenüber den Versprechen der Hirnforschung, man würde bald verstehen, was zu tun sei, um psychische Krankheiten zu heilen. Bisher weiß man jedenfalls sehr wenig. Aus diesem Grund ist Felix Hasler übrigens recht gelassen, was das „drohende Glück“ (Linus Geisler) des Neuroenhancements angeht. Auch da sei die Realität ernüchternd und massenhaftes Hirndoping daher vorläufig nicht zu erwarten.
Auch die philosophische Debatte um die Willensfreiheit sowie die damit verknüpfte Diskussion um die daraus zu ziehenden strafrechtlichen Konsequenzen sind natürlich Thema in Haslers Buch. Da beides aber zum gängigen und altbekannten Repertoire dieser Diskussion gehört, gehe ich hier nicht weiter darauf ein – die Kritik an den Arbeitstechniken der Hirnforschung und dass er die Probleme der Psychopharmakologie für sein Anliegen erschließen konnten, erschienen mir die interessanteren Aspekte des Buches. Hasler schließt seine Streitschrift trotz allem mit einer optimistischen und wohlwollenden Aussicht: Er sieht die Hirnforschung nach ihrem Hype zwar zunächst ins „Tal der Enttäuschungen“ absteigen, danach gäbe es aber die Chance für einen „Pfad der Erkenntnis“, also eine Entwicklung mit realistischen Erwartungen und brauchbaren Ergebnissen. Möge es so kommen.
Das Buch kostet 22,80 Euro und ist im Bielefelder transcript-Verlag erschienen. Der transcript-Verlag macht bereits seit einiger Zeit mit interessanten Büchern zu biomedizinischen und biophilosophischen Themen auf sich aufmerksam. Felix Haslers Buch ist – einer Streitschrift angemessen – nicht in schwerem Wissenschaftsdeutsch, sondern journalistisch flott geschrieben, eingeteilt in gut lesbare kurze Abschnitte. Seine Ausführungen stehen aber trotzdem nicht unbelegt im Raum, er zitiert ausgiebig Studien und andere Referenzliteratur, so dass die Möglichkeit gegeben ist, tiefer in die jeweiligen Themen einzusteigen. Auch wer dem Autor an der einen oder anderen Stelle inhaltlich nicht folgen mag, wird von der umfangreichen Sammlung der Argumente und den unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema profitieren. Das Buch regt zum Nachdenken an, und dazu braucht man, wie zum Lesen, das Gehirn. Soviel immerhin ist sicher.
Nachtrag 1.1.2013:
Unter dem Titel “Mythos Determinismus. Wieviel erklärt uns die Hirnforschung?“ hat im letzten Jahr Brigitte Falkenburg, in Physik promovierte Philosophieprofessorin an der TU Dortmund, ebenfalls ein Buch vorgelegt, das sich kritisch mit den Deutungsansprüchen der Hirnforschung auseinandersetzt. Sie geht ausführlich auf die Reichweite naturwissenschaftlicher Forschungsmethoden und der damit gegenwärtig tatsächlich belegten Zusammenhänge zwischen Gehirn und mentalen Prozessen ein. Kernpunkte ihrer Argumentation betreffen Methodenprobleme des Experimentierens mit mentalen Prozessen, die Asymmetrie des Erfolgs von zerlegenden und synthetischen Erklärungswegen in der Hirnforschung sowie die schon in der Physik problematischen Beziehungen zwischen Kausalität und Determinismus. Dem Zeitbewusstsein und seiner Rückführbarkeit auf eine „objektive Zeit“ widmet sie ein eigenes Kapitel, ebenso der Analyse des Kausalitätsbegriffs und seiner uneinheitlichen Verwendung in der Physik. Wie der Titel des Buchs erwarten lässt, sieht sie die deterministischen Implikationen der Hirnforschung als nicht belegt an. Abschließend gibt sie angesichts des besonderen phänomenologischen Unterschieds zwischen mentalen und neuronalen Prozessen, ähnlich wie schon Thomas Nagel in seinem Buch „Der Blick von nirgendwo“, zu bedenken, dass möglicherweise noch eine angemessene ontologische Sprache fehlt, um den Zusammenhang beider Aspekte überhaupt sinnvoll auf den Begriff zu bringen. Von Gerhard Roth, einem der Hirnforscher, die als Kritiker der Willensfreiheit gelten, gibt es übrigens einen längeren Kommentar zu diesem Buch, im Kern hebt er darauf ab, Falkenburgs Kritik treffe eine Position, die er gar nicht vertrete. Das mag sein, aber sie trifft auf jeden Fall die öffentliche Rezeption der Hirnforschung, wie auch Felix Hasler. Falkenburgs Buch ist populärwissenschaftlich angelegt und kann seine Kernargumente gut vermitteln, einzelne Argumente und Beispiele sind allerdings ohne physikalische Vorkenntnisse nur schwer verständlich. Es ist im Springer-Verlag erschienen und kostet 24,95 €.
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