Bald ist es wieder so weit. Im Frühjahr präsentieren die Krankenkassen Jahr für Jahr ihre aktuellen Krankenstandsdaten. Dann erfährt man einmal mehr, dass der Krankenstand in Berlin höher ist als in Bayern, oder auf dem Bau höher als im Bankgewerbe, dass jüngere Beschäftigte öfter krank sind als Ältere, dafür aber weniger lang, dass die meisten Krankheitstage auf Muskel-Skeletterkrankungen entfallen und dass die berühmte 80/20-Regel Pi mal Daumen auch auf die Krankheitstage passt, d.h. 80 % der Krankheitstage entfallen auf 20 % der Beschäftigten. Eine Krankenkasse nach der anderen veröffentlicht einen Bericht zu den Krankschreibungen ihrer Versicherten und produziert damit für ein oder zwei Tage Schlagzeilen. Experten erklären dann in den Zeitungen, was die Beschäftigten heutzutage krank macht, woher die Krankenstandsunterschiede zwischen den Branchen kommen oder warum die psychischen Störungen als Ursache für Krankschreibungen so stark zunehmen und was Betriebe dagegen unternehmen können. So weit, so gut. Sozusagen als „Leserservice“ für die alljährliche Wiederkehr der Krankenstandsstatistiken hier ein paar Interpretationshinweise.
Oft werden Krankenstandsdaten in den Medien so interpretiert, als ob sich damit die Gesundheit der Beschäftigten abbilden ließe. Das stimmt in bestimmter Hinsicht, in bestimmter Hinsicht aber auch nicht. Jeder kennt die vor allem bei Arbeitgeberfunktionären beliebte Diskussion um das „Blaumachen“. Manchmal lassen sich Beschäftige krankschreiben, ohne es zu sein. Das umgekehrte Phänomen gibt es auch, es heißt „Präsentismus“ und bezeichnet die Anwesenheit von eigentlich kranken Beschäftigten am Arbeitsplatz. Der Krankenstand bildet also die Gesundheit der Beschäftigten nur vermittelt über den sozialen Prozess der Krankschreibung ab. Dabei spielen die Konjunktur, die Betriebsgröße, Branchenüblichkeiten und vieles mehr eine Rolle.
In den Krankenstandsstatistiken der Krankenkassen spiegeln sich aber nicht nur die Krankschreibungszeiten wider. Den Krankenkassen liegen, anders als den Betrieben, auch die Diagnosen der Krankschreibungen vor. Dabei muss man beachten, dass die Krankschreibung durch den Arzt, entsprechend den Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses, auf Arbeitsunfähigkeit und nicht auf Krankheit an sich abhebt. Wer z.B. eine harmlose Hauterkrankung hat, die nicht zur Arbeitsunfähigkeit führt, wird im Allgemeinen auch nicht krankgeschrieben. Solche Diagnosen finden sich in den Krankenstandsdaten also nicht in der Häufigkeit, in der sie tatsächlich auftreten. Ähnlich ist es bei schweren Krankheiten, z.B. Krebserkrankungen, weil sie oft schnell zum Ausscheiden aus dem Erwerbsleben führen.
Und dann gibt es natürlich noch das berühmte Problem mit den 1-3-Tage-Erkrankungen. Viele Beschäftigte müssen sich erst nach dem 3. Krankheitstag krankschreiben lassen. „Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage, hat der Arbeitnehmer eine ärztliche Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer spätestens an dem darauffolgenden Arbeitstag vorzulegen.“ So steht es in § 5 des Entgeltfortzahlungsgesetzes. Der Arbeitgeber kann den berühmten „gelben Schein“ aber auch schon vom ersten Tag an verlangen, das wird von den Betrieben unterschiedlich gehandhabt, von Arbeitern wird es häufiger verlangt als von Angestellten. Für die Krankenstandsstatistik bedeutet das, dass die Kurzzeiterkrankungen in den Statistiken der Krankenkassen mehr oder weniger unterrepräsentiert sind. Bei den Arbeitsunfähigkeitstagen (AU-Tage: die Summe der Krankschreibungstage) macht das nicht viel aus, bei den Arbeitsunfähigkeitsfällen (AU-Fälle: die Zahl der Krankschreibungen, egal wie lange sie dauern) dagegen schon eher.
Die AU-Tage und die AU-Fälle sind auch die beiden wichtigsten Kennziffern der Krankenstandsstatistik. Aus den AU-Tagen errechnet sich der (kumulative) Krankenstand: Die Zahl der AU-Tage pro 100 Versicherte geteilt durch 365 ergibt den Krankenstand – in den Statistiken der Krankenkassen. Oft liest man von Arbeitsunfähigkeitstagen „pro 100 Versichertenjahren“. Die „Versichertenjahre“ sind nur eine statistische Normierungsgröße, damit gleichen die Krankenkassen unterschiedliche Versicherungszeiten aus, man kann die Versichertenjahre einfach wie „ganzjährig Versicherte“ lesen. Manchmal kommt in den Medien auch die KM 1-Statistik des Bundesgesundheitsministeriums vor. Sie beruht auf Stichtagsdaten jeweils zum Monatsersten, d.h. auf dem Verhältnis von krankgeschriebenen Versicherten zu allen Versicherten am Stichtag.
Eigentlich sind die Krankenstandsstatistiken der Krankenkassen eine tolle Sache. Man kann eine Menge aus ihnen herausholen. Die ganze Debatte um die Zunahme psychischer Störungen bei den Erwerbstätigen beruht beispielsweise darauf.
Eine Sache beim Krankenstand irritiert mich allerdings jedes Jahr neu. Seit 1883 gibt es in Deutschland eine gesetzliche Krankenversicherung. Aber bis heute gibt es für die Bundesländer keine Krankenstandsziffer, die die Daten aller gesetzlichen Krankenkassen (ca. 130 sind es noch) zusammenfasst. Das gibt es nur auf Bundesebene. Ein Beispiel mehr dafür, dass regionale Gesundheitsdaten oft selbst da fehlen, wo man es nicht für möglich halten sollte, wir hatten hier schon darüber diskutiert. Und nur nebenbei: dass die Daten der privaten Krankenkassen auch nicht verfügbar sind, ist ebenfalls nicht schön.
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