Es gilt heute als medizinethischer Gemeinplatz, dass medizinischen Interventionen möglichst eine informierte Entscheidung der Patient/innen vorausgehen soll. Der „informed consent“ hat seine historischen Wurzeln u.a. in den Auseinandersetzungen um Menschenversuche in der Medizin. Intensiv wurde darüber z.B. nach den Versuchen Albert Neissers diskutiert, der 1892 mehreren Frauen ohne deren Einwilligung Serum von Syphiliskranken injizierte, um zu untersuchen, ob so eine Immunisierung zu erreichen sei. Spätestens seit den Medizinverbrechen im Nationalsozialismus ist der „informed consent“ als Interventionsvoraussetzung allgemein akzeptiert und ein wichtiges Moment im Arzthaftungsrecht, auch wenn es bis heute immer wieder zu schwerwiegenden Verstößen gegen dieses Prinzip kommt.
Nun kann man zwar haftungsrechtlich definieren, was an ärztlicher Aufklärung nötig ist, damit keine Aufklärungsfehler vorliegen. Aber die tatsächliche Ermöglichung einer informierten Entscheidung ist alles andere als trivial. Risikokompetenz ist nicht nur eine Frage der Verfügbarkeit von Information, hier spielen viele Faktoren eine Rolle, auch weltanschauliche Einstellungen. Das wird hier auf scienceblogs ja immer wieder auf den unterschiedlichsten Gebieten diskutiert, von Weltuntergangsängsten angefangen bis hin zu den Glaubensbekenntnissen rund um die Homöopathie.
Ein Scienceblogs-Dauerthema ist in diesem Zusammenhang auch das Impfen. Dass informierte Entscheidungen zum Impfen nicht einfach durch das Verfügbarmachen von Information entstehen, zeigt z.B. das Phänomen des “Denialismus“ beim Impfen, d.h. der aktiven Abwehr wissenschaftlicher Evidenz zum Impfen.
Einen interessanten Blick auf solche Themen ermöglichen einmal mehr die hier schon mehrfach vorgestellten regionalen Analysen zur Gesundheitsversorgung. Betrachtet man z.B. die regionale Verteilung der Masernimpfraten bei Schulanfängern in Bayern, so zeigt sich ein Nord-Südgefälle: Die Kinder in Nordbayern sind besser geimpft als die Kinder in Südbayern. Bei der zweiten Masernimpfung, die zur vollständigen Grundimmunisierung nötig ist, sieht die regionale Verteilung ganz ähnlich aus.
Dieses Bild ist bereits seit einigen Jahren relativ gleich. Die Masernimpfraten steigen zwar, aber die regionalen Unterschiede halten sich hartnäckig.
Nun konnten meine Kolleginnen am Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit eine zusätzliche Auswertung der Daten aus den Schuleingangsuntersuchungen vornehmen, die meines Wissens in Deutschland ziemlich einmalig ist: Sie haben geschaut, wie oft Eltern angeben, dass sie alle Impfungen für ihre Kinder ablehnen. Dafür kann es im Einzelfall medizinische Indikationen geben, etwa bei immunsupprimierten Kindern. Zumindest hier sollte es aber keine gravierenden regionalen Unterschiede geben. Überraschenderweise gibt es aber bei diesen Ablehnungsquoten wiederum recht große regionale Unterschiede mit einer Häufung vergleichsweise hoher Ablehnungsraten in südbayerischen Landkreisen. An der Spitze lagen im Untersuchungsjahr 2009/2010 Garmisch-Partenkirchen (5,7 %) und Bad Tölz (4,2 %). Da die absoluten Fallzahlen in den einzelnen Landkreisen recht klein sind, muss man sehen, wie stabil dieses Bild in den nächsten Jahren bleibt. Aber es liegt nahe, hier einen Zusammenhang mit den geringeren Masernimpfraten in Südbayern zu sehen, die Masernimpfung ist ja bekanntlich eine, bei der Laientheorien über die Masernerkrankung und über die Impfung eine wichtige Rolle spielen, jedenfalls mehr als z.B. bei der Tetanusimpfung. Dort sind auch die regionalen Unterschiede bei den Impfraten wesentlich geringer.
Fehlt es in Südbayern demnach an guten Informationen zum Impfen? Eher nicht. Auffällig impfskeptisch sind wirtschaftlich wohlhabende Regionen mit gut gebildeter Bevölkerung. Hat man es hier also am Ende mit einer „informierten Entscheidung“ zu tun, während in anderen Regionen Bayerns einfach nur gemacht wird, was der Arzt sagt? Oder hat man es mehr mit einer „gutgläubigen Entscheidung“ zu tun, weil gerade in gebildeten Kreisen mitunter medizinkritische bzw. alternativmedizinische Ansichten en vogue sind, nach denen etwa eine Masernerkrankung harmlos sei (was definitiv falsch ist) oder die Nebenwirkungen der Masernimpfung zu sehr betont werden (weil ihnen nicht die Risiken der Erkrankung gegenübergestellt werden)? Und was folgt daraus für die Weiterentwicklung von Impfkampagnen unter Berücksichtigung des Prinzips der informierten Entscheidung?
Die Daten sind übrigens dem Gesundheitsreport Bayern 2/2012 „Der Impfstatus der Kinder in Bayern – Update 2012“ entnommen, der vor kurzem veröffentlicht wurde. Ich mache hier also einmal etwas Eigenwerbung. Der Bericht wird in ein paar Tagen auf der Internetseite des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit abrufbar sein.
(Nachtrag 1.2.2013: Der Bericht ist jetzt online).
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