Anfang des Jahres ist Ulrich Beck gestorben. Er hat in der deutschen Soziologie frühzeitig durchbuchstabiert, was die „Individualisierung“ der Gesellschaft bedeutet – Individualisierung verstanden als Freisetzung individueller Lebensführung aus traditionalen Selbstverständlichkeiten und Normen. Eine der Folgen ist, dass die Freiheit vom Zwang zum Zwang der Freiheit wird: man muss selbst entscheiden, wohin die Reise gehen soll. Damit ist Freiheit in einem idealistischen Sinne verbunden, eine Wahrung der Menschenwürde gegenüber kollektivistischen Zumutungen. Und damit ist auch die Möglichkeit verbunden, Lebenssituationen marktförmig zu gestalten: Informiere dich, welche Optionen du hast und entscheide dich, was für dich das Beste ist, bei Knappheit in Konkurrenz zu Dritten. Die neoliberale Ideologie hat Letzteres seit den 1980er Jahren zur neuen Selbstverständlichkeit erhoben. Dummerweise führt das auch in Fragen des Alltagslebens zu einer Art Marktversagen. Die Leute wollen nicht, was sie sollen. Man kennt das seit langem in der Arbeitspsychologie, dort hat diese Situation zur Entwicklung zahlreicher Motivationstheorien geführt, alle mit dem Ziel, den Eigensinn der Menschen mit dem, was im Unternehmensinteresse gemacht werden soll, zur Deckung zu bringen, Pflicht und Neigung zu versöhnen, mit Kant gesprochen.
Wenn gesellschaftliche Vermittlungsprozesse übersprungen werden, etwa durch unangebrachte Deregulierungen oder durch die Verkümmerung demokratischer Willensbildung, können sich das von oben Gesollte und das von unten Gewollte ziemlich verständnislos gegenüberstehen. Dann protestieren beispielsweise objektiv oder subjektiv prekarisierte Wutbürger gegen die „Islamisierung des Abendlandes“, es verweigern halbseitig aufgeklärte Bildungsbürger die Masernimpfung, trotzen Genuss- und Suchtbürger den gutgemeinten Hinweisen, dass Rauchen die Gesundheit gefährdet oder, wir haben es gerade gehabt, wollen die Zugführer einfach nicht fahren – so was, so hatten wir uns doch die Privatisierung der Deutschen Bahn und das Ende des streitabstinenten Beamtentums bei der Eisenbahn nicht vorgestellt. Die Reaktion auf solche Phänomene sind Moralisierungs- und Diskriminierungskampagnen, und wenn das nicht hilft, mehr oder weniger harte Nachhilfemaßnahmen: die Drohung mit der Impfpflicht, das Rauchverbot in der Gastronomie, das Tarifeinheitsgesetz. Man könnte sagen, der Neoliberalismus hat ein ungeklärtes Verhältnis zur Gewalt, nicht ganz zufällig war die Galionsfigur des britischen Neoliberalismus eine „eiserne Lady“.
Auf leisen Pfoten kommt dagegen ein alter Trend in neuer Terminologie daher, die Verführung. Die Verhaltensökonomie spricht von „Nudges“, sanften Schubsen, die man uns geben will, damit wir ganz von allein in die richtige Richtung gehen. Der Ansatz ist durch das Buch „Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt“ von Richard Thaler und Cass Sunstein bekannt geworden. Das Vorzeigeprojekt dieses Ansatzes sind die Fliegen in den Urinalen des Amsterdamer Flughafens Schiphol. Angeblich pinkeln seitdem die Männer nicht mehr so oft daneben, weil sie auf die Fliege zielen. Nach diesem Vorbild gesellschaftliche Prozesse zu organisieren, mag man als Pissoirsoziologie ansehen, oder als „Libertären Paternalismus“, so nennen es Thaler und Sunstein. Sie legen Wert darauf, dass es ihnen nicht um die Manipulation von Entscheidungen geht. Im Gegenteil, sie wollen durch richtig gesetzte Anreize eben jene Entscheidungen begünstigen, die den Menschen gut tun. Es geht ihnen darum, dass die Eigenverantwortung besser funktioniert, also Pflicht und Neigung leichter zusammenfinden. Die Umgehung der so zur gefälligen Befolgung angebotenen Normen soll ausdrücklich leicht möglich bleiben, es soll kein Zwang ausgeübt werden. Thaler und Sunstein präsentieren in ihrem Buch auch einige Beispiele aus dem Gesundheitsbereich. Beispielsweise soll die Zahl der Organspenden gesteigert werden, indem man statt einer Zustimmungsregelung – man muss der Organentnahme zustimmen – eine Widerspruchsregelung – man muss der Organentnahme widersprechen, wenn man sie nicht will – macht. Auf diese Weise wird die Bequemlichkeit der Menschen für das Gemeinwohl genutzt, wer nicht will, kann ja widersprechen. Oder Teenager in sozialen Brennpunkten bekommen einen Dollar pro Tag, solange sie nicht schwanger werden. Teenagerschwangerschaften sind gesellschaftlich teuer und werfen viele der jungen Frauen beruflich endgültig aus der Bahn – ein Geschäft zum beiderseitigen Vorteil also, auf der Basis einer freien Entscheidung? Noch ein Beispiel: Krankenkassen sollen Bonusprogramme auflegen für Versicherte, die gesund leben, also nicht rauchen, sich viel bewegen, sich nach welchen auch immer als gesund geltenden Normen ernähren. Hier werden die Nudges anschlussfähig zu den BIG DATA-Projekten auf der Basis von Wearables und Self-Tracking-Systemen. Das hat in Deutschland längst Einzug gehalten, die Generali-App ist ein prominentes Beispiel.
In der Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation, sozusagen den 10 Geboten der Gesundheitsförderung, findet sich der Satz „The aim must be to make the healthier choice the easier choice” – ganz im Sinne der Nudges. Anzumerken ist allerdings, dass es dabei um die „policy makers” ging. In der Ottawa-Charta findet sich außerdem der Ansatz des „Empowerments“, der gemeinschaftlichen Anstrengung, mehr Selbstbestimmung über die eigene Gesundheit zu gewinnen: „This includes a secure foundation in a supportive environment, access to information, life skills and opportunities for making healthy choices. People cannot achieve their fullest health potential unless they are able to take control of those things which determine their health”. Passt das wirklich bruchlos zum verhaltensökonomischen Ansatz, der Menschen dahin bringen will, freiwillig zu tun, was andere für richtig halten?
Mir scheint, wie jede Intervention sind auch die Nudges nicht nebenwirkungsfrei, schon gar nicht in Verbindung mit Selbstüberwachungstechnologien. Sie verändern Verhalten, aber ob sie es immer im Sinne kluger Entscheidungen, unserer klugen Entscheidungen tun? Wann helfen sie uns, uns nicht selbst im Weg zu stehen, wann unterstützen sie die Selbstbestimmung der Menschen? Und wann konfektionieren sie das Verhalten nur normgerecht, wann machen sie unser Verhalten abhängig von extern gesetzten Impulsen oder Belohnungen aus einer zielgerichteten Gamifizierungsumgebung? Sozialtechnologisch unspürbar gemachte Fremdbestimmung ist noch keine Selbstbestimmung, aber wo verläuft im Einzelfall die Grenze? Die Diskussion ist in den Gesundheitswissenschaften noch zu führen.
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