Am Dienstag letzter Woche hat der Berliner Tagesspiegel den „Offenen Brief“ der Ökonomen Heiner Flassbeck, Thomas Piketty, Jeffrey D. Sachs, Dani Rodrik und Simon Wren-Lewis an Angela Merkel dokumentiert, in dem sie die Kanzlerin auffordern, ihre Griechenland-Politik zu überdenken. Dabei verweisen sie auf die humanitären Folgen der Sparpolitik in Griechenland und schreiben u.a.: „die Säuglingssterblichkeit ist in die Höhe geschossen“.
Am Donnerstag letzter Woche hat der Tagesspiegel diesen Satz in einem Beitrag mit der Überschrift „Die Mär der toten Babys“ aufgespießt: „Eine Behauptung, die seit gut einem Jahr durch die Medien geistert. Das Problem: Sie ist falsch.“ Die Quelle für die Behauptung mit den Anstieg der Säuglingssterblichkeit ist, auch darauf verweist der Tagesspiegel, ein Artikel von Kentikelenis et al. im Lancet vor einem Jahr (Greece´s health crisis: from austerity to denialism, Lancet 2014; 383: 748–53). Darin heißt es zur Säuglingssterblichkeit: „The long-term fall in infant mortality has reversed, rising by 43% between 2008 and 2010“. Das stimme zwar, so der Tagesspiegel, unterschlage aber die Jahre davor und danach. „2012 erreichte Griechenland mit 2,9 gestorbenen Säuglingen unter 1000 Neugeborenen den zweitniedrigsten Wert seiner Geschichte nach 2008.“
Die Säuglingssterblichkeit Griechenlands gibt es bei der europäischen Statistikbehörde Eurostat. Das Liniendiagramm unten zeigt sie für die Jahre 2002 bis 2013. Ich habe außerdem noch die Säuglingssterblichkeit Spaniens und Portugals im Trend hinzugefügt, die beiden anderen oft genannten Krisenländer Südeuropas. Die Kurve Spaniens verläuft linearer, aufgrund der größeren Fallzahlen gibt es weniger Zufallsschwankungen. Die Kurve Portugals zackt wie die Griechenlands.
Man sieht zwischen 2008 und 2010 den im Lancet berichteten Anstieg, dann zwischen 2010 und 2012 einen erneuten Rückgang und 2013 gegenüber 2012 wieder einen Anstieg.
Was kann man daraus ablesen? Erstens, dass die Aussage im Lancet wohl in der Tat etwas gewagt war. Ob eine neu zu beobachtende Veränderung eine Trendwende anzeigt oder nicht, kann man oft erst einige Zeit hinterher sagen, wenn man noch ein paar Beobachtungsjahre mehr hat. Zweitens, dass daraus aber auch folgt, dass der erneute Rückgang der Säuglingssterblichkeit zwischen 2010 und 2012 genauso vorsichtig zu bewerten ist – auch das könnte schließlich eine zufällige Abweichung von einem nun doch ansteigenden Trend sein, der 2013 wieder zum Ausdruck kommt. Oder es könnte sein, dass die Geburtsstationen sich vorübergehend auf die neue Situation einstellen konnten, bis es 2013 wieder bergab ging. Oder sonst eine Erklärung greift. Wie auch immer: Gerade wenn der Tagesspiegel den Ökonomen vorwirft, die Daten mit einem „confirmation bias“ betrachtet zu haben, weil sie nur das eigene Weltbild bestätigen wollten und tote Babys dafür zugkräftig seien, sollte man aufpassen, nicht selbst auch mögliche Erklärungen zu übersehen, nur um die eigene Story nicht zu versauen. Drittens, dass der Satz, 2012 habe es den zweitniedrigsten Wert nach 2008 gegeben, etwas seltsam ist, weil der Wert 2012 damit ja trotzdem höher als 2008 ist und der Tagesspiegel hier im Grunde genau so gefällig Jahre aus einer Zeitreihe herauszieht, wie er es den Ökonomen vorwirft. Um die Zahlenspielchen noch etwas absurder zu machen: 2013 lag die Säuglingssterblichkeit um 37 % höher als 2008, hat sich damit die Aussage im Lancet etwa in der Tendenz doch bestätigt? Wie gesagt, das weiß man noch nicht. Vielleicht wird man es anhand der bloßen Sterbedaten auch nie wissen, weil sich heute die Eurozone geeinigt haben soll und die griechischen Krankenhäuser dann hoffentlich bald auch wieder normal funktionieren.
Was man dagegen weiß ist, dass der Tagesspiegel die Geschichte mit der „Mär von den toten Babys“ nicht erfunden hat. Sie wurde nämlich schon mehrfach auf dem europaskeptischen Portal „FactCheckEU“ breitgetreten, zum ersten Mal vor einem Jahr.
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Nachtrag 14.7.2015
Im oben zitierten Lancet-Artikel wird die Säuglingssterblichkeit als ein Indikator für die humanitären Folgen der Krise in Griechenland angeführt. Weil dort auch auf die Totgeburten und die neonatale Sterblichkeit hingewiesen wird, habe ich, weil ich ohnehin in den europäischen ECHI-Indikatoren etwas gesucht hatte, auch einmal nachgeschaut, was es dazu gibt. Es gibt die perinatale Sterblichkeit, das sind in der Definition der ECHI-Indikatoren totgeborene Föten mit einem Gewicht ab 1.000 g sowie Totgeburten und Sterbefälle bis einschließlich des sechsten Tages nach der Geburt. Das „Heidi-Data-Tool“ der ECHI-Indikatoren liefert direkt die Grafik der Perinatalsterblichkeit Griechenlands:
Die Perinatalsterblichkeit gilt als besonders sensibel, was die Gesundeitsversorgung in der Schwangerschaft und bei der Geburt angeht. Gut, auch diese Zeitreihe geht nur bis 2012, aber sieht das nicht so aus als ob … ? Jetzt bin ich erst recht gespannt, ob man demnächst auf guter Grundlage sagen kann, wer bei der Geschichte nun wirklich dem confirmation bias zum Opfer gefallen ist.
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