In der aktuellen Ausgabe 3/2015 der Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (ZEFQ), herausgegeben von den großen Institutionen der evidenzbasierten Medizin in Deutschland, gibt es einen kleinen Themenschwerpunkt zur „Komplementär-Alternativen Medizin“ (CAM) und der Frage nach der Integrierbarkeit von CAM in die Medizin.
Bettina Schöne-Seifert, Jan-Ole Reichardt, Daniel R. Friedrich und Peter Hucklenbroich nehmen zunächst eine Kartierung des diffusen CAM-Begriffs anhand von verschiedenen potentiell begriffskonstitutiven Merkmalen vor. Sie diskutieren dann Kriterien zur Bewertung von Therapien und bilden ein priorisiertes Bewertungsschema für Therapieverfahren, das auch auf CAM-Verfahren anzuwenden ist und helfen soll, zwischen medizinisch vertretbaren und nicht vertretbaren Verfahren zu unterscheiden. In einem zweiten Beitrag diskutieren die gleichen Autor/innen (ohne Hucklenbroich) die Frage, unter welchen Bedingungen CAM-Präparate als Placebos angewendet werden können und machen auf die dabei auftretenden ethischen Probleme aufmerksam. Der dritte Beitrag ist von Manfred Anlauf. Er diskutiert den Unterschied zwischen stochastischer Evidenz (wie sie aus epidemiologischen Studien resultiert) und naturwissenschaftlichen Wirksamkeitsmodellen und baut aus den Kombinationsmöglichkeiten beider Aspekte eine instruktive kleine Matrix, die er, ähnlich wie Schöne-Seifert et al., zur Therapiebewertung heranzieht. Schade, dass die beiden Beiträge in diesem – ihren Überlegungen gemeinsamen – Punkt nicht aufeinander Bezug nehmen.
Der letzte Beitrag, von Johannes Köbberling und Julia Seifert, beschäftigt sich mit Argumentationsstrukturen von Anhängern paramedizinischer Verfahren. Ausgangspunkt sind Leserbriefe auf einen Artikel „Trug der Sanften Medizin“ in der ZEIT vom 25.4.1997. Köbberling/Seifert haben typische Argumente aus diesen Leserbriefen in 5 Gruppen zusammengefasst:
Herabsetzung der wissenschaftlichen Medizin
• Verwendung des Begriffs „Schulmedizin“ in herabsetzender Absicht
• Die Medizin sei naturwissenschaftlich-reduktionistisch und ohne Patientenorientierung
• Die Medizin habe zu große Nebenwirkungen
• Die Ablehnung paramedizinischer Verfahren sei nur ökonomisch motiviert.
Falsche tendenziöse Begriffswahl
• CAM-Verfahren seien „ganzheitlich“, d.h. sie würden im Unterschied zur normalen Medizin den „ganzen Menschen“ betrachten
• Cam-Verfahren folgten der Natur, sie seien „naturheilkundlich“ und „sanfte Medizin“.
Erklärungsversuche zur Wirksamkeit
• CAM wirke nicht nur als Placebo
• CAM heile wirklich, insbesondere durch die Mobilisierung der Selbstheilungskräfte der Menschen
• Methodische Unfassbarkeit: Die Wirksamkeit der CAM-Verfahren entziehe sich den üblichen wissenschaftlichen Methoden
• Kasuistische Erfahrungen: Die Wirksamkeit der Verfahren werde durch eigene Erfahrungen belegt.
Weitere Pseudobegründungen
• Idealisierung, Mystifizierung: Pseudomedizinische Verfahren beruhten auf einem „Schauen“ und einer Einordnung der „Stellung den Menschen in der Welt“
• Die Verfahren seien verbreitet, viele würden sie anwenden und hätten Erfolge, darum seien sie überzeugend
• Die Verfahren gebe es seit langem, das Alter der Methode spreche gegen einen Irrtum
• Bedeutende Namen werden als Beleg angeführt
• Zitate aus der Literatur (z.B. das berühmte Hamlet-Zitat mit der Schulweisheit) werden als Beleg angeführt.
Dialektische Argumentationsversuche
• Es wird gedanklich inkohärent argumentiert
• Kritische Argumente werden einfach umgedreht und gegen die Medizin vorgebracht
• Einwände werden bewusst missinterpretiert
• Kritiker werden persönlich diffamiert
• Kritik wird als inkompetent dargestellt.
Abschließend gehen Köbberling/Seifert noch darauf ein, dass zur Verteidigung paramedizinischer Verfahren in den Leserbriefen auch Nazivergleiche in unterschiedlicher Akzentuierung vorgebracht wurden (CAM-Kritiker würden alternative Methoden zu Unrecht in die Nähe der Heilkunde der Nazis rücken etc.) und dass von den CAM-Vertretern häufig ein friedliches Miteinander der verschiedenen „Säulen der Medizin“ gefordert wird. Unter welchen Bedingungen das geht, welche Anforderungen also auch CAM-Verfahren zu erfüllen haben, wenn sie nicht dem Irrationalismus den Weg bereiten sollen, ist in den vorherigen Beiträgen diskutiert worden:
Interessant finde ich daran zwei Aspekte: Man erkennt in den Argumenten, die Köbberling/Seifert aus den Leserbriefen herausgefiltert haben, unschwer typische Argumente wieder, die auch hier auf Scienceblogs und anderen Blogdiskussionen mit CAM-Anhängern beständig auftauchen. Die Leserbriefe sind aus dem Jahr 1997, noch im klassischen Papiermedium Zeitung. Es wäre eine schöne kommunikationswissenschaftliche Masterarbeit, das einmal mit einer Durchsicht heutiger Blogthreads abzugleichen – was ist gleichgeblieben, was ist anders. Des Weiteren frage ich mich, ob es hilfreich wäre, zur Sortierung solcher Argumente das „Denialismus-Konzept“ der Hoofnagle-Brüder zu verwenden, das Pascal Diethelm und Martin McKee vor einigen Jahren in die Gesundheitswissenschaften übertragen haben. Dieses Konzept scheint mir zur Herausarbeitung der glaubensimmunisierenden Wirkung solcher Argumente besser geeignet als die materialnahe, pragmatische Sortierung, die Köbberling/Seifert vorgenommen haben.
Was die genannten Beiträge verbindet, ist die Kritik an Forderungen nach einem „Pluralismus in der Medizin“, dem eine ausreichende wissenschaftliche und ethische Basis fehlt. Was nicht zusammengehört, soll auch nicht zusammenwachsen.
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