Depressionen sind eine Volkskrankheit. Der DEGS1-Studie des Robert Koch-Instituts zufolge sind im Laufe eines Jahres 8,2 % der Erwachsenen davon betroffen. Zu Recht sind Depressionen daher seit einiger Zeit Gegenstand immer neuer Veröffentlichungen, etwa dem “Depressionsatlas“ der Techniker Krankenkasse oder dem “Faktencheck Depression“ der Bertelsmann-Stiftung.

Ob Depressionen häufiger werden, ist nicht ganz klar. Viele Fachleute gehen davon aus, dass die Häufigkeit von Depressionen in der Bevölkerung zumindest in den letzten 15 Jahren stabil geblieben ist. Sie kommen aber öfter im Versorgungssystem an: bei den ambulanten Diagnosen, den stationären Diagnosen, den Krankschreibungen der Beschäftigten oder den krankheitsbedingten Frühberentungen. Es scheint doch etwas leichter geworden zu sein, darüber zu sprechen, „dass man nicht mehr kann“, und die Hausärzte, bei denen der größte Teil der Betroffenen zunächst vor der Tür steht, gehen auch diagnostisch immer besser mit der Krankheit um.

Auf der anderen Seite verweisen Fachleute wie Betroffene gleichermaßen darauf, dass über Depressionen in der Öffentlichkeit trotzdem nach wie vor zu wenig bekannt sei, dass zu selten leitliniengerecht behandelt wird oder die Behandlungspfade nicht gut genug funktionieren, z.B. was die Nachsorge nach stationären Aufenthalten angeht. Und natürlich verschweigen auch viele Betroffene nach wie vor ihre Probleme, weil sie sich schämen oder selbst nicht so recht verstehen, was mit ihnen los ist.

Dürer_Melencolia

Recht unklar sind trotz aller Fortschritte in der Forschung die Ursachen von Depressionen. Man weiß, dass es genetische Einflussfaktoren gibt, eine Teilerklärung, viel klüger ist man damit nicht.

Alain Ehrenberg, ein französischer Soziologe, hat vor fast 20 Jahren das Buch „Das erschöpfte Selbst“ veröffentlicht, 2004 ist es auf Deutsch erschienen. Er sieht in der Depression die psychische Signatur unserer Gegenwartsgesellschaft: Der Neoliberalismus hat die „Eigenverantwortung“ zur Triebkraft einer permanenten inneren Mobilisierung aller Kräfte gemacht, den „kontinuierlichen Verbesserungsprozess“ der japanischen Autoindustrie sozusagen als individuelle Selbstoptimierungsnorm verinnerlicht – bis zur Erschöpfung der nie ans Ziel gelangenden Bemühung. So kann man es sehen.

Andere warnen davor, Depressionen zu einseitig als Reaktionen auf Stress oder belastende Lebensereignisse zu sehen, weisen darauf hin, dass solche Faktoren in der Anamnese von den Betroffenen oder ihren Angehörigen möglicherweise überbewertet werden und sich subjektiv als Ursachen der Erkrankung aufdrängen, auch wenn sie es nicht sind. Wird also das Leben mit seinen unvermeidlichen Schicksalsschlägen pathologisiert? An den diagnostischen Rändern, da, wo die „Depression“ zur Definitionssache wird, kann man diesen Eindruck durchaus gewinnen: Im Zusammenhang mit der aktuellen, fünften Revision des psychiatrischen Diagnosemanuals DSM wurde beispielsweise in den Medien anmerkt, dass künftig beim Verlust eines nahestehenden Menschen schon eine starke Trauerreaktion, die länger als zwei Wochen dauert, als Depression gilt. Nur, mögen die Grenzen des Krankheitsbildes noch so unscharf sein, im Kern geht es unzweifelhaft um eine schwere Krankheit, die gelegentlich sogar tödlich endet. Etwa 10.000 Suizide gibt es derzeit jährlich in Deutschland, ein großer Teil davon ist Folge einer Depression.

Depressionen sind ein Thema, über das zu diskutieren sich also unter vielen Gesichtspunkten lohnt. Am Wochenende hatte die Evangelische Akademie Tutzing in Kooperation mit dem Münchner Bündnis gegen Depression eine Tagung dazu organisiert, bei der das richtig gut gelungen ist. Die Tagung unter dem Titel „not just sad!“ hat klüger gemacht, dabei auch unterschiedliche Sichtweisen auf das Thema ermöglicht, und sie hat Menschen in einer Weise in Verbindung und ins Gespräch gebracht, wie es solchen Bildungsstätten durch ihr Ambiente einfach besser gelingt als herkömmlichen Fachtagungen. Der Blick auf den Starnberger See macht Nachdenklichkeit leicht. Trübsinnig war diese Tagung über den Trübsinn übrigens in keiner Weise: „Ich nehme mit, dass hier so viel gelacht wurde“, zog einer der Veranstalter am Ende ein antidepressives Resümee. Die Vorträge werden in Kürze auf der Internetseite der Evangelischen Akademie zur Verfügung stehen, es lohnt sich, dann einmal in den einen oder anderen reinzuschauen.

Kommentare (12)

  1. #1 rolak
    25. Januar 2016

    möglicherweise überbewertet

    Da wäre eine Bekannte von mir die Anekdote: Was bei ihr über die letzten 3 Jahrzehnte nicht schon alles als Ursache für das Ganze bzw die aktuellen Schübe ausgewürfelt wurde – generell das, was sie gerade beschäftigt und in den seltenen Fällen, wo dies Arzt/Ärztin nicht ausreichend erschien, endogen.

  2. #2 Alisier
    25. Januar 2016

    Es ist wohl so, dass die Hausärzte immer besser damit umgehen. Das ist schon mal was.
    Allerdings sind die Wartezeiten, bis Betroffene dann endlich therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen können, im Durchschnitt immer noch unerträglich lang.
    Vor allem, und ich stelle diese vielleicht steile These dann mal hier auf, scheint es nicht zu gelingen, akut Hilfsbedürftige von weniger Hilfsbedürftigen effektiv zu unterscheiden.
    Und dann die immer noch intensive, lange Medikation in viel zu vielen Fällen.
    Und danke für den Tipp: ich schau mal in die Vorträge rein.

    • #3 Joseph Kuhn
      25. Januar 2016

      @ Alisier:

      Effektivere Unterscheidung nach Hilfebedürftigkeit: Dazu hatte Märtin Härter aus Hamburg ein interessantes und erfolgreiches Modellprojekt vorgestellt, das leider bisher keinen Eingang in die Regelversorgung gefunden hat.

  3. #4 kathrin
    25. Januar 2016

    Depressionen werden früher/überhaupt diagnostiziert, das ist ein großer Fortschritt. Manchmal – und da besteht dann auch Schulungsbedarf – wird diese Diagnose aber schon mal so einfach in den Raum geworfen, ohne dass es eine eingehende Überprüfung gibt.
    Hinter dem Ganzen kann dann auch ein organischer Erkrankung stecken, z.B. Hashimoto, die als Begleitung auch mentale Beeinträchtigungen mit sich bringt.

  4. #5 Gerhard
    25. Januar 2016

    Was ist eine “starke Trauerreaktion”?
    Die Reaktion kann ganz unterschiedlich ausfallen. Schon bei der Drohung des Sterbens eines Angehörigen.
    Und sie muss nicht direkt eine Trauer sein, sondern kann Lähmung, Angst oder Zwangskrankheit sein. Es kann ein ganzer Komplex sein.

  5. #6 Joseph Kuhn
    25. Januar 2016

    @ Gerhard: Die Formulierung “starke Trauerreaktion” ist von mir, als Zusammenfassung der Symptome, die im DSM V genannt sind. Dass es unterschiedliche Symptome gibt, wird im DSM V natürlich gesehen. Problematisch ist das schwer nachvollziehbare Zusammenrücken von pathologischer und normaler Reaktion:
    https://www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_medien/download/pdf/stellungnahmen/2013/DGPPN-Stellungnahme_DSM-5_Final.pdf

  6. #7 Dr. Webbaer
    26. Januar 2016

    @ Herr Dr. Kuhn :

    Er sieht in der Depression die psychische Signatur unserer Gegenwartsgesellschaft: Der Neoliberalismus hat die „Eigenverantwortung“ zur Triebkraft einer permanenten inneren Mobilisierung aller Kräfte gemacht, den „kontinuierlichen Verbesserungsprozess“ der japanischen Autoindustrie sozusagen als individuelle Selbstoptimierungsnorm verinnerlicht – bis zur Erschöpfung der nie ans Ziel gelangenden Bemühung.

    Nein, hierzu nichts, haha, Sie hatten schon womöglich beim Lesen von oben nach unten hier Ergänzung oder Nachfrage erwartet, abär die kommt nicht, stattdessen kommt eine Frage, um etwas zu lernen:
    Der Schreiber dieser Zeilen hatte im Web gelegentlich mit Depressiven im kommentarischen Austausch zu tun und ist zu der Einschätzung gelangt: die sind wirklich depressiv; in RL-Erfahrung (“Reallife-Erfahrung”) hat er es mit einem “Halb-Depressiven” zu tun, der sehr erfolgreich war und dennoch bitter ist.
    -> Ist die Depression eine Erkrankung, die im biochemischen direkt Un-Glücklichsein erzeugt und die nur sehr schwierig zu behandeln ist?

    MFG
    Dr. Webbaer (der als Sanguiniker hier natürlich von sich aus nicht viel verstehen kann)

    • #8 Joseph Kuhn
      26. Januar 2016

      @ Webbär: Depressionen haben physiologische Korrelate, egal was ihre Ursachen sind, alles andere wäre Geisterkunde. Aber was da genau im Gehirn vor sich geht, auch wie z.B. SSRI wirken, ist nicht so klar. Zur Behandelbarkeit: Auch die meisten schweren Depressionen sind einigermaßen gut behandelbar. Je nach Schweregrad etc. sind Psychopharmaka und Psychotherapie angezeigt (wobei unter den psychotherapeutischen Verfahren die kognitive Verhaltenstherapie die beste Evidenzbasis hat). Mehr dazu: S-3-Leitlinie Unipolare Depression: https://www.leitlinien.de/nvl/depression oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.

  7. #9 Dr. Webbaer
    5. Februar 2016

    Vielen Dank für den Hinweis, Herr Dr. Kuhn, ist sicherlich eine ganz wichtige Sache bzw. ein ganz wichtiges Krankheitsbild. Ihr Kommentatorenfreund notiert sich: Behandlung möglich bis ‘einigermaßen gut’ möglich.
    MFG
    Dr. Webbaer (gerne ohne deutsche Umlaute)

  8. #10 Stefan
    19. August 2016

    Hmm, meine Erfahrung bezüglich Hausärzte und erkennen von Depressionen sieht leider anders aus.

    [Edit: Werbe-URL gelöscht, JK]

  9. #11 sesamstrasse1312
    4. Januar 2017

    Und natürlich verschweigen auch viele Betroffene nach wie vor ihre Probleme, weil sie sich schämen oder selbst nicht so recht verstehen, was mit ihnen los ist.

    Nicht nur das, sondern obwohl inzwischen immer häufiger die Rede von Depressionen sein darf, ist den meisten Leuten nicht geläufig, u. a. da teilweise tatsächlich unbekannt, wodurch sich eine solche Symptomatik auszeichnen kann und was für Formen der Krankheitsverlauf annehmen kann.
    Betroffene schämen sich dadurch oft zurecht, weil durchaus absehbar ist, dass sie mit detaillierten Beschreibungen ihres Zustands mit ziemlicher Sicherheit auf Unverständnis stossen werden. Und hier kommt, wie der Autor richtig beschreibt, oft noch das eigene Unverständnis darüber, was mit einem geschieht.

    Gerade bei einer sich anbahnenden oder auch ausgewachsenen Erschöpfungsdepression, aber auch allgemein bei Depressionen, kommt noch die Erwartungshaltung dazu, dass man ja etwas dagegen unternehmen könne und somit auch müsse und dazu noch, dass man von einem solches Unterfangen auch einen Heilungserfolg erwartet. Dies setzt betroffene enorm unter Druck. Ein Druck, De-press-ion, der nicht betroffene kaum nachvollziehen können, zumindest nicht das vorhandene Ausmass davon.

    In einer klinischen Studien im Rahmen eines Medikamententests hatten die Testpersonen und die Testleiter, welche die Interviews vornahmen, eindeutig den Eindruck, dass sich jegliche Erwartung auf zwingende Heilung negativ auf jeglichen positiven Erfolg auswirkt. Allein die Handlung, dass sich Betroffene den Druck einmal von der Seele reden durften, ganz ohne Bewertung oder Leistungsdruck, schuf die Grundvoraussetzung für jeglichen Heilprozess.

    Es läuft daraus hinaus, dass wir Mühe damit haben, eine so unfassbare Krankheit zu akzeptieren, geschweige denn zu respektieren. Genau dies aber, Respekt vor den eigenen Reaktionen auf das Leben, seine Ereignisse und das Umfeld, wäre jedoch der wichtige erste Schritt jeder Art von Vorgehensweise.

    Ps. Sorry für das Ausgraben eines alten Artikels. Ich hatte eigentlich was anderes gesucht und bin darüber gestolpert. Denke jedoch, dass.gerade in den Wintermonaten das Thema Depression aktueller denn sonst sei…

  10. […] Die Evangelische Akademie Tutzing hat diesen Fragen in Zusammenarbeit mit dem Münchner Bündnis gegen Depression gestern und heute eine Tagung gewidmet. Wieder einmal. Über eine der früheren Veranstaltungen der Akademie hatte ich hier ebenfalls schon berichtet. […]