Über „Werte“ wird derzeit so intensiv diskutiert wie seit Jahren nicht mehr. Die Krisen in der Welt und unser Umgang damit fordern unübersehbar eine Selbstvergewisserung in der Gesellschaft heraus, was denn „unsere Werte“ wirklich sind. Mit den üblichen Sonntagsreden und der rituellen Bemühung der „westlichen Wertegemeinschaft“ ist es zurzeit nicht getan.
Drüben bei GeoGraffitico beschäftigt sich Jürgen gerade auch mit unseren Werten:
„Welche Werte waren das nochmal? Toleranz, Gastfreundschaft, Besonnenheit, Hilfsbereitschaft, (nee, wohl nicht) Gewaltbereitschaft, Arroganz, Fremdenhass, Sturheit, Rechthaberei, vielleicht?“
Sind das „Werte“? Ist Fremdenhass ein „Wert“? Damit könnte man in eine Einführungsvorlesung in die philosophische Ethik einsteigen. Das erspare ich mir, aber auf ein paar Aspekte zum Wesen der Werte, die auch in der philosophischen Ethik immer wieder unter neuen und alten Gesichtspunkten diskutiert werden, will ich doch eingehen.
Mit der Ontologie der Werte ist es ein wenig so, wie mit der Ontologie mathematischer Entitäten, ohne den Vergleich überstrapazieren zu wollen. Hier wie dort gibt es Positionen, die eine objektive Existenzform der Werte (oder z.B. der Zahlen) annehmen, demzufolge Werte erkannt werden können und in kognitiv gehaltvollen Sätzen vorkommen können. Das „Gute“ ist dann eine Eigenschaft von Gegenständen (im allgemeinen Sinne) wie die Masse eine Eigenschaft von Elementarteilchen ist. Hier wie dort gibt es Positionen, die Werte (oder z.B. Zahlen) als Erzeugnisse menschlichen Handelns betrachten, bis dahin, dass sie einfach als subjektive Vorlieben oder historische Verkrustungen des Denkens gelten. Ohne uns Menschen und unser Tun gäbe des demnach keine Werte. Und hier wie dort gibt es Positionen, die das eine mit dem anderen auf mehr oder weniger kluge Weise in Verbindung miteinander bringen.
Um dieses Tableau rankt sich eine Vielzahl grundlegender ethischer Theorien, von der Tugendethik (die das Gute daran fest macht, ob der Handelnde tugendhaft ist) bis zum Utilitarismus (der das Gute an der Summe des Glücks oder des Nutzens einer Handlung für die Gemeinschaft festmacht – ein in Public Health verbreiteter Zugang insbesondere zur gesundheitsökonomischen Evaluation von Maßnahmen, aber das nur nebenbei).
In der Diskursarena, die damit aufgemacht ist, streiten sich die Philosophen seit Jahrhunderten. Ich habe natürlich auch kein Patentrezept, wie die Dinge aus einer höheren Sicht heraus zu beurteilen wären. Was nicht schlimm ist, weil es eh keinen Philosophie-Nobelpreis gibt. Aber dass sich die Philosophen streiten, zeigt, dass man über die Dinge diskutieren kann, dass es Gründe gibt, die für und gegen eine philosophische Position sprechen und auch für und gegen bestimmte „Werte“. Mit anderen Worten: „Werte“ sind dem vernünftigen Diskurs nicht entzogen. Selbst religiöse Fundamentalisten müssten einräumen, dass die „Werte“, die sie als gottgegeben (also als objektiv) betrachten, noch als solche erkannt werden müssen, mit allen Irrtumsmöglichkeiten des menschlichen Erkenntnisvermögens (diesen Punkt umgehen sie allerdings, indem sie die Offenbarung des Wortes Gottes für sich in Anspruch nehmen).
Wenn man dem Philosophenstreit mit seinen komplizierten Untiefen aus dem Weg gehen will, kann man etwas alltagsnäher Werte als verallgemeinerte Handlungsschemata, als Heuristiken, als konsentierte (und immer wieder strittige) Handlungsorientierungen ansehen. In diesem Sinne sind all die Dinge, die Jürgen in seinem Blog anspricht, „Werte“. Aber nicht alle sind unstrittig und erst recht nicht alle taugen als Normen des „guten“ oder auch nur gut begründeten „nützlichen“ Handelns.
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