Drüben bei blooDNAcid hat Cornelius Courts gerade ein IS-Pamphlet zur Diskussion gestellt, in dem der IS u.a. sagt, er hasse uns, weil wir „Ungläubige“ und „Liberale“ seien. Nach dem Motto „willst du nicht mein Bruder sein, schlag ich dir den Schädel ein“ lehnt der IS jede Form von Multikulti ab. Diversity Management by exitus.
Man kann daran Debatten um das todbringende Potential von Religionen festmachen, man kann aber auch mit Ernst-Wolfgang Böckenförde danach fragen, auf welcher moralischen Basis der freiheitliche, säkulare Staat stehen soll und ob er diese Basis aus sich selbst schaffen kann. Böckenförde hatte daran bekanntlich Zweifel:
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
(Böckenförde: Recht, Staat, Freiheit. Frankfurt 2006, S. 112/113)
Diese Formulierung bringt ein Dilemma zum Ausdruck: Es kann keine verordnete Staatsideologie geben, ohne dass das Freiheitsversprechen, das den modernen Staat ausmacht, zurückgenommen wird. Damit das Gemeinwesen aber Regeln hat, die – zumindest mehrheitlich – freiwillig und nicht nur unter Zwang befolgt werden, sind moralische Selbstverständlichkeiten nötig, die die Einzelnen mitbringen, die der Staat den Einzelnen nicht vorgeben kann.
Böckenförde fragt sich daher, „ob nicht auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muss, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt.“ Und dann kommt die Pointe: „Freilich nicht in der Weise, dass er zum ‚christlichen‘ Staat rückgebildet wird, sondern in der Weise, dass die Christen diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches erkennen, sondern als die Aufgabe der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist.“ (ebda, S. 113/114).
Böckenförde hat diesen Aufsatz 1967 erstmals veröffentlicht. Damals war für traditionsorientierte Katholiken die Frage danach, ob die Kirche oder der Staat die Regeln des Zusammenlebens bestimmen soll, noch strittig und mancher Kirchenfürst hatte ein nicht ganz verfassungskonformes Verhältnis zu den bürgerlichen Freiheiten. Dass die Kirche auch heute teilweise noch als Staat im Staate agiert, sei einmal dahingestellt, heute, so scheint mir, sind Böckenfördes Überlegungen anregender beim Nachdenken darüber, ob und unter welchen Bedingungen der Islam zu Deutschland gehört.
Ohne „große Wahrheiten“, ohne Sinnstiftendes, können wir vermutlich nicht leben und auch nicht zusammenleben. Wenn die großen Wahrheiten aber unser Zusammenleben so bestimmen, dass sie von jedem unbedingten Gehorsam verlangen, zerstören sie den Frieden. Diese Lektion hat Europa in blutigen Kriegen gelernt. Dass unsere Werte allerdings auch nicht nur unverbindliches Gerede sein dürfen, diese Lektion müssen wir wohl gerade wieder neu lernen, herausgefordert durch den politischen Islam, und herausgefordert durch die zunehmende soziale Brüchigkeit unserer Gesellschaft, in der sich „die da oben“ und „die da unten“ immer mehr voneinander entfernen. Debatten um eine „Leitkultur“ mit Benimmregeln für Flüchtlinge werden da nicht ausreichen.
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