Die Impfpflicht ist hier auf Gesundheits-Check inzwischen ein Dauerthema. Sie war wiederholt Gegenstand von Diskussionen, z.B. im Zusammenhang mit der Schwäche des Öffentlichen Gesundheitsdienstes oder im Hinblick auf das Abwägen von Pro- und Contra-Argumenten. Erst vor kurzem habe ich auf die Position des neuen STIKO-Vorsitzenden Thomas Mertens zur Impfpflicht bei Masern hingewiesen – er ist dagegen.
Jetzt hat die FDP auf ihrem Parteitag einen Antrag der Jungen Liberalen beschlossen. Der Antrag fordert eine „allgemeine Impfpflicht für Kinder bis 14 Jahre gemäß § 20 Absatz 6 Infektionsschutzgesetz“. In § 20 (6) IfSG heißt es:
„Das Bundesministerium für Gesundheit wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates anzuordnen, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen oder anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist. Das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz) kann insoweit eingeschränkt werden. Ein nach dieser Rechtsverordnung Impfpflichtiger, der nach ärztlichem Zeugnis ohne Gefahr für sein Leben oder seine Gesundheit nicht geimpft werden kann, ist von der Impfpflicht freizustellen; dies gilt auch bei anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe. § 15 Abs. 2 gilt entsprechend.“
Da bei Masernerkrankungen schwere Verlaufsformen auftreten können und es immer wieder regionale Masernausbrüche gibt, könnte eine Masernimpfpflicht womöglich so eingeführt werden, eine Impfpflicht gegen Tetanus, wie sie vor einiger Zeit die CDU wollte, dagegen nicht. Ob den Jungen Liberalen noch andere Infektionen vorschweben, gegen die verpflichtend geimpft werden soll, etwa die Windpocken, weiß ich nicht. Vielleicht gibt es ja demnächst zum Beschluss der FDP noch ein erläuterndes Papier.
Die Begründung der Jungen Liberalen orientiert zunächst ebenfalls auf die Masern:
„Erst durch die flächendeckende Impfung mehrerer Generationen konnten tödliche Krankheiten wie Pocken oder Kinderlähmung hierzulande weitestgehend ausgerottet werden. Doch die Impfquote in Deutschland nimmt inzwischen wieder ab: So werden beispielsweise durchschnittlich nur noch 37 Prozent der Kinder rechtzeitig und ausreichend gegen Masern geimpft. Zum Vergleich: 95 Prozent wären notwendig, um einen ausreichenden, populationsweiten Schutz sicherzustellen. Dieser alarmierende Zustand hat so weit geführt, dass es zuletzt in Deutschland wieder zu so vielen Masern-Ausbrüchen kam wie seit 10 Jahren nicht mehr – darunter auch zu mehreren Todesfällen.“
Allerdings ist diese Begründung nicht in jedem Punkt nachvollziehbar. „Die Impfquote“ gibt es nicht. Es gibt Impfquoten für einzelne Infektionskrankheiten und dazu liegen Daten meist nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen vor. Die zitierten 37 % sind aus einer 2013 veröffentlichten und in den Medien vielfach aufgegriffenen Analyse des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung in Deutschland (ZI) zur rechtzeitigen Masernimpfung im Sinne der STIKO. Die STIKO empfiehlt die erste Masernimpfung im Zeitraum vom 11. bis zum 14. Lebensmonat, frühestens jedoch ab dem 9. Lebensmonat, die zweite Impfung im Alter von 15 bis 23 Monaten. Die Analyse der Geburtskohorte des Jahres 2008 ergab, dass 37 % der Kinder genau den STIKO-Vorgaben entsprechend geimpft wurden. Allerdings waren immerhin etwa 60 % bis zum Ende des zweiten Lebensjahres zweimal geimpft. Bis zum Schulalter steigen die Impfquoten den aktuell vorliegenden Daten des RKI zufolge bis ca. 93 % an. Seit Oktober 2016 liegt eine neue Analyse des ZI zu den Impfungen entsprechend des STIKO-Zeitfensters vor, bezogen auf die Geburtskohorten 2009 bis 2012. Es wird ein Anstieg von 61 % auf 63 % berichtet (erste Zeile der Tabelle: STIKO-Zeitfenster, zweite Zeile: nach zwei Lebensjahren).
Wie die neuen Daten zur STIKO-gemäßen Impfung zu den 37 % aus der ersten Analyse passen, erschließt sich mir im Moment nicht, vielleicht weiß von den Mitlesenden jemand mehr dazu. Aber das ist letztlich nicht so wichtig. Insgesamt kann man bei den Masern sowohl mit Blick auf die rechtzeitigen Impfungen als auch mit Blick auf die Impfquoten im Einschulungsalter einen Anstieg feststellen. Viele Kinder werden demnach zwar nicht entsprechend der Zeitvorgaben der STIKO geimpft, aber bis zum Schulalter wird die von der Weltgesundheitsorganisation geforderte 95 %-Schwelle fast erreicht. Impflücken gibt es nach wie vor bei den nach 1970 geborenen Erwachsenen. Worauf sich die Aussage der FDP bezieht, dass es zuletzt zu „mehreren Todesfällen“ kam, weiß ich nicht.
So unstrittig einerseits der Sinn der Masernimpfung ist, so diskussionsbedürftig ist andererseits die Frage, ob eine Impfpflicht bei den Kindern zum gegenwärtigen Zeitpunkt das probate Mittel ist, die Impfquoten im Interesse der Herdenimmunität zu steigern. Die für die Herdenimmunität mindestens genauso wichtigen Impflücken bei den Erwachsenen werden damit nicht geschlossen. Auch das Argument des STIKO-Vorsitzenden, dass man mit einer Impfpflicht womöglich eher Widerstände provoziert (und in der Folge z.B. mehr Eltern Atteste über medizinische Kontraindikationen vorlegen), wiegt m.E. schwer. Hinzu kommen komplizierte rechtliche Abwägungsfragen, welche Infektionen aufgrund ihres Verlaufs Zwangsmaßnahmen wie die Impfpflicht rechtfertigen und ob weniger zwangsförmige Maßnahmen im Vorfeld einer als ultima ratio bemühten Impfpflicht auch wirklich ausgeschöpft sind. Ist die FDP mit ihrem Beschluss vielleicht doch etwas zu schnell von der Eigenverantwortungsrhetorik zum Zwang gekommen?
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