In der Prävention gibt es einen scheinbar unausrottbaren Fehlschluss: dass die Identifikation eines Risikofaktors zugleich die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen belegt, die sich gegen diesen Risikofaktor richten. Wenn gute Studien zeigen, dass Bewegungsmangel das Diabetesrisiko erhöht, ist es dann nicht naheliegend, den Leuten z.B. eine halbe Stunde Jogging am Tag zu empfehlen? Wenn es starke Hinweise darauf gibt, dass die Dieselmanipulationen der Autohersteller statistisch zu zusätzlichen Sterbefällen führen, versteht es sich dann nicht von selbst, dass die betroffenen Dieselautos, falls nicht nachrüstbar, aus dem Verkehr zu ziehen sind? Wenn es sein könnte, dass Glyphosat die Artenvielfalt schädigt und vielleicht doch irgendwie unter bestimmten Bedingungen auch negative gesundheitliche Effekte hat, muss es dann nicht schlicht und einfach verboten werden? Wenn klar ist, dass ein früherkannter Brustkrebs mit mehr Erfolgsaussichten behandelt werden kann als Brustkrebs im Spätstadium, spricht dann nicht alles für die Mammographie und eine frühzeitige Operation aller dabei entdeckter Brustkrebsfälle?
Das sind schlicht und einfach Fehlschlüsse. Dabei wird stillschweigend vorausgesetzt, dass eine bestimmte, ganz konkrete Präventionsmaßnahme unter realen Bedingungen den identifizierten Risikofaktor unter ceteris paribus-Bedingungen verringert. Das darf man aber nicht ohne Weiteres voraussetzen, ob das gelingt, muss man in vielen Fällen empirisch untersuchen. Wenn zu viele der animierten Jogger nach einer widerwillig absolvierten Laufrunde erst mal mit einer Curry-Wurst mit Pommes und drei Bier Energie tanken und mit gutem Gewissen den Rest des Tages auf der Couch verbringen, ändert das disziplinierte Laufen vielleicht gar nichts am Diabetesrisiko. Wenn die alten Dieselautos durch Autos ersetzt werden, die abgastechnisch andere Probleme haben, oder wegen schwerer Batterien mehr Reifenabrieb und mehr Feinstaub verursachen, ist es vielleicht mit der Reduktion der Sterbefälle nicht weit her. Wenn statt Glyphosat etwas Schlimmeres auf den Feldern zum Einsatz kommt, wäre man vielleicht besser beim Glyphosat geblieben und wenn die Mammographie zu häufig zu unnötigen Behandlungen und anderen unerwünschten Effekten führt, fällt die Bilanz des Brustkrebsscreenings vielleicht doch nicht so positiv aus.
Die Identifikation eines Risikofaktors ist eben nicht gleichbedeutend damit, dass jede gegen ihn gerichtete Maßnahme zu befürworten ist. Klingt trivial, aber achten Sie einmal darauf, wie häufig das übersehen wird. Und wie oft eine konkrete Präventionsmaßnahme im Hinblick auf ihre Effekte unter realen Alltagsbedingungen gar nicht in einer Interventionsstudie untersucht wurde, weil man ihr eine Augenschein-Plausibilität zugesteht: Sie richtet sich ja gegen einen bekannten Risikofaktor. Also muss die Reduktion des Risikofaktors helfen und daher folgerichtig …
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