Die Macht der Zahlen
Man sage nicht, Wissenschaft habe in Zeiten der alternativen Fakten und ihrer ungehinderten Verbreitung im Internet an Bedeutung verloren. Ganz im Gegenteil. Naive Geister halten die Wissenschaft für die Suche nach der Wahrheit. Das ist nicht ganz falsch. Aber mit Nietzsche kommt man weiter. Nietzsche behauptete, die Wahrheit sei ein Mittel der Schwachen, um sich gegen die Starken durchzusetzen, ihren Willen zur Macht durch das im Gewande der Wahrheit verborgene Ressentiment zu zerrütten. Die Starken hatten Nietzsches Sympathie. Deswegen kam ihm gar nicht erst der Gedanke, dass natürlich die Starken genauso „Wahrheiten“ bemühen, um sich durchzusetzen. Oft reichen erfundene Wahrheiten, alternative Fakten, oder auch Bullshit im Sinne Harry Frankfurts. Trump exerziert das gerade didaktisch sehr gut, weil allgemeinverständlich, vor. Erfunden hat er die Methode aber nicht. Seine Einfälle sind bekanntlich origineller. Die Macht der Zahlen demonstrieren Politiker schon lange mit Leidenschaft in den Talkshows. Dort spulen sie Kaskaden von Zahlen herunter, an die sie sich einen Tag später nicht mehr erinnern können, weil sie sie nur für den situativen Geländegewinn gebraucht haben.
Demokratisierung der Zahlenmächte
Das Prinzip, dass sich Daten wunderbar zum Beeindrucken und Überwältigen des Gesprächspartners eignen, hat also alterwürdige Tradition. Auch Horoskope werden schließlich „berechnet“ und nicht einfach erwürfelt. Die Überzeugungskraft von Zahlen ist groß und unter politischem Blickwinkel ist governing by numbers ein machiavellistisches Erfolgsrezept. Das Internet bietet nun die Chance für jedermann, diese Methode auch für sich zu nutzen. Nicht Wohlstand für alle ist in unseren Zeiten die Parole des Tages, sondern Zahlen für alle. In diesem Demokratisierungsprozess wird jedermann zum Hüter der wahren und wahreren Wahrheit. Entweder man hat eigene Zahlen oder man klärt trutherisch über die Zahlen Anderer auf. Beides geht. An gesellschaftlichen Risikodebatten um das Passivrauchen, Glyphosat, Feinstaub oder NO2 lässt sich das ebenso schön zeigen wie im Streit um die Homöopathiestudien, die gesundheitlichen Effekte von Butter oder die des täglichen Spaziergangs. Dass deswegen „die Wahrheit in unserer Diskussionskultur absäuft“, wie die Süddeutsche Zeitung vor ein paar Tagen meinte, ist nur Kulturpessimismus. Nietzsche wusste es besser. Der Kampf um Zahlen ist ein Machtkampf.
Paradigmatisch: Statistische Sterbefälle
Dazu ganz assoziativ ein paar Internet-Fundstücke im Nachgang zur Studie des Umweltbundesamtes über die 6.000 vorzeitigen Sterbefälle durch NO2. Diese „vorzeitigen Sterbefälle“ haben sich regelrecht zum roten Tuch für Kritiker des quantifizierten Risikos entwickelt. Beispielsweise schreibt die Epoch Times, ein Blatt aus dem “politisch rechten Paralleluniversum” (Meedia), auf den Spuren der BILD-Berichterstattung wandelnd: “Keine Abgastoten nachweisbar – Diesel-Debatte reine Panikmache”. Warum: weil den Herzkreislauffällen nicht NO2 auf die Stirn geschrieben steht. Wenn der Arzt nicht “Abgas” auf den Totenschein schreibt, kann Abgas das Leben eben nicht verkürzen, so die buchstabengläubigen Zeugen Jehovas Diesels. Mit dem gleichen Anspruch auf Evidenz könnte man schreiben: “Keine Rauchertoten nachweisbar – Tabakkontrolle reine Panikmache”: Oder: “Keine vorzeitigen Sterbefälle durch soziale Benachteiligung nachweisbar – Sozialepidemiologie reine Panikmache”.
Professoren statt Zahlen
Panikmache der Anderen gilt es zu vermeiden, um jeden Preis. Professoren zu zitieren, ist dabei eine Simulationsvariante im Spiel governing by numbers: Wer selbst keine Zahlen hat, braucht Zahlenkritiker. Dass sich in der Epoch Times ausgerechnet ein Statistikprofessor wie Walter Krämer vor den Karren der statistischen Gedankenlosigkeit spannen lässt, nur weil es zu seiner (ansonsten ja oft genug berechtigten) Skepsis gegenüber Meldungen über Umweltrisiken passt, muss nicht verwundern, auch der confirmation bias ist ein öffentliches Gut.
Aber auch andere Professoren müssen für die Sache herhalten, nicht immer ganz freiwillig. “Tatsächlich kann man keinen einzigen Toten klar dem Abgas von Dieseln zuschreiben! Kronzeuge dieser Aussage ist Prof. Dr. Joachim Heinrich von der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP)“. Das schreibt eine Seite namens „Faktenkontor“, die immerhin im Namen wahrheitsgemäß anzeigt, dass sie die Wahrheit als Handelsware ansieht. Zitiert wird aus der berühmten Studienkritik der Bildzeitung vom Samstag letzter Woche. Der arme Kollege Heinrich wird vermutlich seine aus dem Zusammenhang gerissenen Sätze noch länger irgendwo im Netz finden und hätte auf diese „Kronzeugenrolle“ sicher gerne verzichtet.
An Datenersatz-Professoren ist auch sonst kein Mangel. Googelt man nach Diesel und Panikmache, findet man z.B. die Seite „Das rote Heft“, im Wiesenweg in Rösrath zuhause, wo immer das sein mag. Da steht: „Kein Geringerer als Prof. Dr. Hans Draxler, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin, hat vor Panikmache gewarnt.“ Der Draxler zieht sich durch den ganzen Text. Wer jetzt zweifelt, ob er aus dem „roten Heft“ zitieren sollte, weil Draxler in Wahrheit Drexler heißt, der kann sich alternativfaktisch bei EIKE bedienen, dem „Europäischen Institut für Klima & Energie“. Das klingt doch eindeutig nach renommierter Wissenschaft und das „Institut“ ist auch einschlägig für seine eigenen allerwahrsten Daten zum Klimawandel bekannt. Es bringt noch einmal den auch hier schon angesprochenen Beitrag von Dirk Maxeiner auf Achgut (ceterum censeo: der Seite mit dem Klagelaut im Titel). Zur Einleitung heißt es: „Dirk Maxeiner von ACHGUT hat sich diese Studie und ihre Macher mal näher angeschaut. Sein Ergebnis in freier Wahrnehmung der EIKE Redaktion: Die Studie ist von Hausmüll nur deshalb zu unterscheiden, weil sie anders als dieser nicht getrennt wurde.“ Versuchen Sie nicht, die Logik dieses Satzes zu verstehen, es gibt keine. Aber darauf kommt es nicht an. Dirk Maxeiner hat sich die Studie des Umweltbundesamtes schließlich näher angeschaut. Wie lange er verständnislos darauf gestarrt hat, ist nicht bekannt.
Die Ethik der Zahlen
Und last but not least die Bildzeitung selbst, der Mund der Wahrheit, auf den sich so viele skeptische Stimmen zur Studie des Umweltbundesamtes beziehen: Bild bringt Lesermeinungen. Warum weiß ich nicht, aber Laienepidemiologie hat bei dem Thema offensichtlich eine hohe street credibility. Gegen Berechnungen, die man nicht versteht, hilft gefühlte Statistik. Der Bild-Leser weiß: die Studie ist Müll, siehe auch EIKE. Ein Wolfgang Bügener aus Oberhausen reflektiert sogar wissenschaftsethisch über den Umgang mit Zahlen: „Es ist doch eigenartig, wie unsere Politiker ihre Wähler veräppeln und belügen. Sie halten sich noch nicht einmal, wenn auch nur vor statistischen, Toten zurück.“ Statistische Leichenschändung. Auf so was kann wirklich nur die Bildzeitung kommen. Aber immerhin werden die statistischen Toten hier einmal ernst genommen.
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