Digitalisierung
Digitalisierung ist eines der Zauberwörter unserer Zeit. Um dieses Wort verbreitet sich derzeit eine Goldgräberstimmung, die in seltsamem Kontrast zur Wirklichkeit steht. Da gehen Visionen einer Big Data-Medizin durch die Medien, mit der individuelle Krebstherapien entwickelt werden oder die Menschen vor einem bevorstehenden Schlaganfall gewarnt werden, weil eine App irgendwelche Veränderungen von Biomarkern so interpretiert. Auf der anderen Seite kriegen die Patienten homöopathische Zuckerpillen beim Heilpraktiker und halten auch das für „Informationsmedizin“. Da gibt es Versprechungen vom Online-Datenaustausch zwischen den behandelnden Ärzten, aber bei den alten Leuten im Heim weiß kein Mensch, welche Medikamente sie bekommen, welche davon sie wirklich nehmen und ob es nicht besser wäre, die Hälfte davon wegzulassen. Und wer privat versichert ist, kann ein Lied davon singen, was „Papierkram“ ist: Die Rechnung kommt vom Arzt auf Papier, muss kopiert werden, einzureichen bei der privaten Krankenversicherung in Papierform (bitte nicht geklammert oder geheftet), bei Beamten vorher noch bei der Beihilfe (bitte nicht geklammert oder geheftet), und auch die Kopie des Beihilfebescheids muss natürlich in Papierform an die private Krankenversicherung weitergegeben werden. Von dort kommt die Abrechnung ebenfalls in Papier. Immerhin die Kostenerstattung läuft digital über die Bank.
Die elektronische Gesundheitskarte
Ein anderes notleidendes Projekt ist die elektronische Gesundheitskarte mit ihrer Telematik-Infrastruktur. Sie soll den oben angesprochenen Online-Austausch von Gesundheitsdaten ermöglichen. Als einfache chipverzierte Versichertenkarte gibt es sie seit 1995, alleine kann sie aber nichts. 2005 wurde dann die „gematik“, die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH, gegründet, über die die technischen Komponenten des vernetzten Systems definiert und zugelassen werden sollen. Ein Jahr später gab es übrigens den ersten Spatenstich zum Berliner Flughafen.
Auch für die Telematik-Infrastruktur im Gesundheitswesen ist inzwischen viel Geld ausgegeben worden. Wie viel genau, weiß man wohl nicht, eine Summe im unteren Milliardenbereich soll es sein, die Gesamtkosten bis zur vollständigen Inbetriebnahme werden auf 14 Mrd. Euro geschätzt. Das dauert aber noch. Immerhin gibt es jetzt einen Einstieg ins System. Ein erster Anbieter für die sogenannten „Konnektoren“ ist auf dem Markt. Die Konnektoren sind ein unverzichtbares technisches Modul, um den sicheren Datenaustausch zwischen den Praxisverwaltungssystemen der Ärzte (und den Kliniksystemen) zu ermöglichen. Weitere Konnektoren stehen unmittelbar vor der Zulassung durch die gematik. Außerdem braucht es noch einen speziellen Praxisausweis, die passenden Kartenterminals und die Einrichtung der Schnittstellen bei den Praxisverwaltungssystemen und den Kliniksystemen.
Der Praxistest wird erst mal nur der sog. „Versichertenstammdatenabgleich“ sein, d.h. es kann online geprüft werden, ob der Patient der ist, der er vorgibt zu sein. In einem nächsten Schritt, dem E-Health-Gesetz zufolge eigentlich noch 2018, sollen dann ein Notfalldatensatz und ein Medikationsplan auf die elektronische Gesundheitskarte gespeichert werden – höchst sinnvolle Anwendungen, man denke beim Notfalldatensatz an Allergien, beim Medikationsplan an die Polypharmazie bei alten Patienten. 2019 soll dann ein Patientenfach dazu kommen, in das Arztbriefe, Röntgenbilder und wer weiß was gespeichert werden können. Das muss vermutlich in die Cloud. Auch für die selbst generierten Gesundheitsdaten aus Apps soll es einmal Platz geben und der neue Gesundheitsminister Spahn will zudem, dass jeder auch zuhause auf seinem PC oder Smartphone auf alles Zugriff hat. Bisher ist der Zugriff nämlich nur beim Arzt oder im Krankenhaus vorbereitet. Wie es datenschutzkonform gelingen kann, das System zu privaten Endgeräten hin zu öffnen, weiß vermutlich bisher niemand und die Datenkrake Cambridge Analytica kann man ja nicht mehr fragen, die haben sicherheitshalber Insolvenz angemeldet, bevor es ihnen rechtlich an den Kragen geht.
Industrie in den Startlöchern
Heute war ich bei einer Industrieausstellung zur Telematik-Infrastruktur bei der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns. Etwa ein Dutzend Anbieter von Systemkomponenten waren da und haben ihre Lösungen präsentiert. Im Markt schon aktiv ist die CompuGroup Medical Deutschland AG mit dem wie gesagt ersten zugelassenen Konnektor, des Weiteren hat die T-Systems International GmbH ihren vor der Zulassung stehenden Konnektor präsentiert, ebenso die secunet Security Netwerks AG. Drumherum mehr als ein Dutzend Anbieter für Praxisverwaltungssysteme, drei Hersteller von Kartenterminals: die Cherry GmbH, die gt german telematics GmbH und die Ingenico Healthcare GmbH sowie zwei Hersteller von SMC-B Praxisausweisen: die Bundesdruckerei und auch hier T-Systems.
Bei den Konnektoren geht es jetzt darum, die Claims abzustecken und idealerweise alle TI-Komponenten aus einer Hand bzw. mit Partnern anzubieten. Da hat die Compugroup mit ihrem zugelassenen Konnektor und einem eigenen Angebot an Praxisverwaltungssystemen die Nase wohl vorn, aber die Konkurrenz ist ihr auf den Fersen und dementsprechend aversiv wird übereinander gesprochen. Die jeweils anderen Systeme können bestimmt das oder das nicht wirklich so gut, der Wettbewerb lässt grüßen.
Einig waren sich alle, mit denen ich gesprochen habe, aber darin, dass das Patientenfach wohl noch eine Weile auf sich warten lässt und dass die Einbindung privater Endgeräte unter Datenschutzgesichtspunkten ein schwarzes Loch ist.
Datenschutz war gestern?
Der Datenschutz treibt denn auch manche Ärzte und Psychotherapeuten um. Sie stehen einerseits unter dem Diktat, die neue EU-Datenschutz-Grundverordnung mit weitreichenden Datenschutzvorgaben umzusetzen, andererseits ihre Praxisverwaltungssysteme gegenüber externen Zugriffen öffnen zu sollen, deren Funktionsweise und Sicherheit viele nicht verstehen. Das wird vor allem dann virulent werden, wenn das Patientenfach kommt. Soll dann der Orthopäde wirklich sehen, dass der Patient wegen einer Depression in Behandlung war? Der Patient soll den Zugriff zwar freigeben, aber der versteht die ganze Geschichte vermutlich noch weniger. Und die Oma Erna schon gar nicht. Wird die nicht eher sagen, Herr Doktor, schauen Sie mal, Sie wissen doch, wie das geht? Und ob es lange dauert, bis Versicherungen einen Weg gefunden haben, ihre Versicherten zur Freigabe aller Daten zu bewegen, „damit wir Sie besser beraten können“? Über den sicheren Zugriff über Handys will ich erst gar nicht nachdenken.
Ich bin gespannt, was da einmal kommt und ob man dann mit seiner Gesundheitskarte auf dem Berliner Flughafen die Unterlagen für seine private Versicherung online einchecken kann, oder doch ein Lufttaxi nehmen muss? Und was von den Versprechungen heute eine Luftnummer bleibt. Wer weiß.
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