Worum es nicht geht
Die Frage, was das Bewusstsein ist und so besonders macht, treibt Philosophen seit Generationen um, neuerdings auch Hirnforscher. Ich kann sie natürlich auch nicht umfassend beantworten. Daher vorneweg: Es geht hier nicht um die Frage, ob wir Willensfreiheit haben oder inwiefern diese Willensfreiheit durch die Gene, die Gesellschaft, unsere Sozialisation oder unser Gehirn eingeschränkt ist oder im Gegenteil erst durch das eine oder andere davon ermöglicht wird, oder ob beides zusammen der Fall ist. Es geht auch nicht darum, ob Bewusstsein ein Emergenzphänomen ist, wie es mit den Qualia zusammenhängt, ob es ein Bewusstsein ohne Gehirn geben kann, das man in einen Computer übertragen kann, oder wo das Bewusstsein ist, wenn wir schlafen.
Worum es geht
Ich will auf einen recht speziellen Punkt hinaus, der zwar mit all den genannten Dingen zu tun hat, den man aber diskutieren kann, ohne Antworten auf diese Fragen zu haben. In der philosophischen Diskussion um das Bewusstsein gibt es eine alte Position, die das Bewusstsein als „Epiphänomen“ betrachtet: Es ist irgendwie da, wie der Schatten eines Baums, aber es erfüllt keinen Zweck und könnte genauso gut nicht da sein. Ohne die Debatte um die Epiphänomen-These hier wiederholen zu wollen: Das ist nach meiner Auffassung (auch) deswegen falsch, weil das Bewusstsein einen evolutionstheoretisch höchst wertvollen Zweck erfüllt. Es ermöglicht nämlich das Abwägen von Gründen.
Gründe und Ursachen: Erklärung in acht Sätzen
Gründe sind so etwas wie die semantischen Geschwister der Ursachen in den Naturwissenschaften. Dafür, dass eine Kerze ohne Sauerstoff erlischt, gibt es Ursachen. Die Kerze überlegt nicht, dass es für sie besser wäre, ohne Sauerstoff zu erlöschen. Sie hat keine Gründe. Dafür, dass wir die Summe von 2 plus 2 mit 4 angeben, gibt es dagegen Gründe, keine Ursachen. Wir prüfen das Ergebnis auch nicht experimentell, indem wir mit Ursachen hantieren, sondern wir prüfen das Ergebnis durch einen mathematischen Beweis, der es logisch (nicht kausal) auf Prämissen (nicht auf Ursachen) zurückführt. Würde ein Zählexperiment 5 als Ergebnis bringen, würden wir es – aus guten Gründen – nicht glauben. Nur nebenbei: Das Beispiel zeigt, dass auch Gründe in gewisser Weise determinieren, aber das ist eine andere Geschichte.
Jetzt endlich: Wozu ist Bewusstsein gut?
Unser Handeln im Alltag ist durchdrungen von Gründen. Nicht nur von Gründen natürlich, es ist auch durchdrungen von Ursachen, siehe die eingangs genannten Faktoren. Wir können nicht so ganz aus unserer Haut heraus. Aber ein bisschen schon, nämlich durch Gründe. Über Gründe können wir uns z.B. mit anderen Menschen dergestalt verständigen, dass wir deren Überlegungen auf ihre Relevanz für unsere Überlegungen prüfen können. Wenn ein Freund schlechte Erfahrungen mit einem Auto gemacht hat und uns vom Kauf der gleichen Marke abrät, verursacht das bei uns im Idealfall nicht kausal eine bestimmte Reaktion, sondern wir prüfen, ob die Gründe, die uns berichtet wurden, überzeugend sind oder nicht. Dabei spielt unser Wissen um kausale Vorgänge eine wichtige Rolle, aber das Abwägen von darauf gestützten Gründen ist kein kausaler Prozess. Über die Ebene der Gründe können wir auch Vergangenes in die Gegenwart holen und prüfen, was frühere Erfahrungen für ein aktuelles Problem bedeuten können. Wenn wir das nicht bewusst machen, dann haben uns die früheren Erfahrungen „geprägt“, dann reagieren wir nach einem Reiz-Reaktions-Schema und das schränkt unsere Verhaltensvariabilität erheblich ein, und damit die Möglichkeit, situationsangemessen – aus guten Gründen – zu handeln.
In bestimmten Situationen kann es von Vorteil sein, fest verdrahtet und schnell zu reagieren. Die Evolution hat uns z.B. mit Reflexen ausgestattet, die ohne unser Bewusstsein funktionieren. Aber in vielen Situationen verschafft es uns einen enormen Vorteil, wenn wir flexibel sind, indem wir Gründe abwägen können. Das geht aber nur bewusst. Unbewusst können wir funktionieren oder reagieren, aber nicht Gründe abwägen. Das Bewusstsein ist eine evolutionstheoretisch entstandene Arena, in der Gründe aufeinandertreffen können und nichtkausal, sondern abwägend, z.B. logisch schlussfolgernd, miteinander in Beziehung treten. Wie das Gehirn das hinkriegt, weiß ich nicht, darüber müssen sich die Philosophen und Hirnforscher weiter Gedanken machen und potentielle Erklärungsmöglichkeiten abwägen, und natürlich das, was experimentell zu prüfen ist, experimentell prüfen. Das ist, siehe oben, nicht mein Thema hier.
Den kurzen Gedankengang kurz zusammengefasst: Da für unser Lernen aus Erfahrung (was nicht nur Konditionierung ist) und unser soziales Miteinander das Abwägen von Gründen einen evolutionären Vorteil gegenüber einem bloß automatischen Reagieren auf Reize bietet, dafür aber das Bewusstsein als „Verhandlungsraum“ notwendig ist, glaube ich, dass das Bewusstsein kein Epiphänomen ist. Es ist nicht der Schatten unseres Gehirns, sondern Teil seines Lichts.
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Kleine Auswahl zum Weiterlesen:
• Daniel Kahnemann: Schnelles Denken,langsames Denken. München 2011. Ein faszinierendes, allgemeinverständlich geschriebenes Buch über Heuristiken des Denkens. Ziemlich dick, aber keine Seite zu viel.
• Julian Nida-Rümelin: Vom Wert des Lebens und der Freiheit. München 2018. Knapp 100 Seiten, zwei Aufsätze. Der zweite berührt unsere Debatte, eine ganz kurze Einführung in die Freiheitsproblematik, einschließlich einer guten Einordnung der berühmten Libet-Experimente. Für jedermann lesbar, wer schon mehr dazu gelesen hat, profitiert trotzdem mehr.
• Geert Keil: Willensfreiheit und Determinismus. Stuttgart 2009. Eine kurze Einführung in die Willensfreiheitsdebatte von einem kompatibilistischen Standpunkt. Nur gut 130 Seiten, aber man muss sich trotzdem Zeit dafür nehmen.
• Thomas Nagel: Geist und Kosmos. Berlin 2013. Ein Buch, über das hier schon mehrfach diskutiert wurde. Gut zu lesen, leicht misszuverstehen. Für Hardcore-Naturalisten eine Toleranzprüfung, die sie bestehen, wenn sie Gründe abwägen und nicht nur auf Reize reagieren. Ein wichtiger Gedanke des Buches ist, dass uns möglicherweise das begriffliche Instrumentarium noch fehlt, um den Zusammenhang von Natur und Bewusstsein zu verstehen.
• Daniel Dennett: Süße Träume. Frankfurt 2007. Ein Klassiker der neueren naturalistischen Position. Eine Toleranzprüfung diesmal für die andere Seite. In „Neurowissenschaft und Philosophie”, Berlin 2010, streiten beide Seiten (Maxwell Bennett, Daniel Dennett, Peter Hacker und John Searle) in einem Buch.
• Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes. Berlin/New York 2001. Eine hoch anregende, aber nicht leicht zu lesende Übersichtsdarstellung über verschiedene Aspekte des Mentalen einschließlich der Ansatzpunkte und Probleme reduktionistischer Strategien.
• Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/New York 1985. Fast 600 Seiten materialistische Psychologie, mit einer phylogenetischen Herleitung des Psychischen. In manchen biologischen Aspekten veraltet, aber vom Grundkonzept her nach wie vor wegweisend. Leider ohne Anleitung so gut wie nicht lesbar. Der Autor schrieb im Vorwort: „Man wird mir sagen, es mache große Mühe, dieses Buch zu lesen. Ich halte dem entgegen, dass es auch Mühe gemacht hat, es zu schreiben.“
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