Wissenschaft und Objektivität
Wissenschaft ist ein Versuch, Wissen im Sinne von Aussagen, die gut begründet sind, also Kandidaten für wahre Aussagen, von Aussagen zu trennen, die gute Gründe gegen sich haben, also Kandidaten für vermeidbare Irrtümer sind.
In den Naturwissenschaften und auch in der Medizin trifft man dabei häufig auf einen naiven Realismus. Aussagen gelten demnach wissenschaftlich, wenn sie sich in der Realität, im Idealfall im Experiment, bewährt haben. Tradierte Lehrmeinungen seien dagegen belanglos. Die evidenzbasierte Medizin hat sich bekanntlich in ihren Anfangszeiten gerne als Gegenmodell zur eminenzbasierten Medizin präsentiert. Als Säulenheiliger dieses robusten Vertrauens in eine Wissenschaft, deren Richtschnur eine allen vor Augen stehende objektive Realität sei, wird dabei manchmal auf Karl Popper verwiesen, vor allem, wenn man betonen will, dass es in der Wissenschaft keine ewigen Wahrheiten gäbe.
Das ist deswegen ein naiver Realismus, weil er vieles verkennt, was in der Wissenschaftstheorie längst Binsenweisheiten sind. Natürlich ist Wissenschaft nicht einfach ein objektiver Hypothesenprüfungsprozess, sondern auch ein sozialer Prozess, natürlich prägen Begriffe und theoretische Konzepte das, was man beobachten kann, was als „Daten“ wahrgenommen wird, natürlich ist Wissenschaft auch nicht einfach „wertfrei“, sondern durchdrungen von normativen Setzungen auf verschiedenen Ebenen, und natürlich gibt es selbst bei Popper ein Abbruchkriterium für die Vertreibung des Subjektiven aus dem Wissenschaftsprozess, nämlich die Verständigung auf Basisätze bzw. Beobachtungsätze. Aber vermutlich haben viele, die Popper gerne im Munde führen, seine „Logik der Forschung“ nicht in der Hand gehabt. Wer sich für die angesprochenen Punkte interessiert, mag in einem Einführungsbuch zur Wissenschaftstheorie nachlesen, ich will hier kein Einstiegsseminar halten.
Das Ende der wissenschaftlichen Tatsachen?
Mir geht es um etwas anderes. Während die berühmten frühen Kritiker an Poppers Logik der Forschung, z.B. Paul Feyerabend mit seinem Werk „Wider den Methodenzwang“ oder Thomas Kuhn mit seiner „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ in der Alternativmedizin vergleichsweise wenig Widerhall fanden, ebenso wenig wie aktuelle konstruktivistische Ansätze, scheint die Alternativmedizinszene neuerdings einen Narren an Ludwik Flecks „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ gefressen zu haben. Man begegnet seinem Namen immer öfter, wenn die Alternativmedizin gegen die evidenzbasierte Medizin verteidigt werden soll. Exemplarisch dafür mag Harald Walachs seinerzeitiger Kommentar zu Lankas Masernprozess sein, schon überschrieben mit der Bezugnahme auf Ludwik Fleck: „‘Was ist eine „wissenschaftliche Tatsache‘? Ein kleines Fallbeispiel: Der ‚Masernprozess‘.“ Bei Walach darf man annehmen, dass er Fleck gelesen und verstanden hat, bei vielen alternativmedizinischen Fleck-Fans ist es wohl so ähnlich wie bei der rituellen Beschwörung Poppers gegen die Leichtgläubigen.
Ludwik Fleck war Mediziner. Er hat zwar einen Impfstoff gegen Fleckfieber entwickelt, aber das Fleckfieber ist nicht nach ihm benannt, wie man manchmal hört, sondern nach den fleckenartigen Hautausschlägen bei den Erkrankten. In seinem berühmten Buch über die Entstehung wissenschaftlicher Tatsachen entwickelt er am Beispiel medizinischer Erkenntnisgewinnung ein Konzept der Wissenschaft als sozialem Prozess, bei dem „Denkstile“ und „Denkkollektive“ eine wichtige Rolle spielen, in gewisser Weise ähnlich wie die „Paradigmen“ bei Thomas Kuhn. Vielleicht liegt es daran, dass Fleck mit medizinischen Beispielen arbeitet und nicht auf die Physik rekurriert, dass er für die Alternativmedizin jetzt entdeckt wurde. Vielleicht liegt es auch daran, dass er schon im Buchtitel auf die historische Genese „wissenschaftlicher Tatsachen“ hinweist. Denn dieser Aspekt scheint im Mittelpunkt des alternativmedizinischen Interesses zu stehen: Man bemüht Fleck , um die Wahrheits- und Prüfungsansprüche der normalen Wissenschaft infrage zu stellen.
Aber Ludwik Fleck sieht „wissenschaftliche Tatsachen“ nicht als Erfindung. Er hebt in seiner Rekonstruktion der Herausbildung wissenschaftlicher Tatsachen sehr wohl die Gewinnung und Interpretation empirischer Daten hervor. Im „Denkkollektiv“ einigen sich Wissenschaftler nicht frei von aller Realität auf einen beliebigen Konsens, der dann als wissenschaftliche Tatsache verkauft wird, sondern sie prüfen mit den ihnen historisch jeweils verfügbaren Möglichkeiten, wie etwas zu erklären und zu beschreiben ist. Was sonst. Der „wissenschaftliche Konsens“ ist nichts, was sich alternativmedizinisch einfach zur Seite schieben lässt, weil man mit gleichem Recht jede andere Meinung dagegen stellen kann. Es geht, siehe oben, in der Wissenschaft immer darum, Aussagen, die gut begründet sind, von Aussagen zu trennen, die gute Gründe gegen sich haben.
Die Wissenschaft als plurales System – je nach Gegenstand
Damit ist nicht gesagt, dass unterschiedliche Wissenschaften nicht unterschiedliche Grundkonzepte, Methoden und Wahrheitsansprüche haben können. In der Mathematik kann man ewige Wahrheiten verfolgen und diese auch beweisen, in den Naturwissenschaften geht das nicht. In den Naturwissenschaften ist das Experiment methodologischer Goldstandard, in der Psychologie gilt das nicht uneingeschränkt, nämlich da nicht, wo es um begründetes statt um bedingtes Handeln geht. Wenn experimentalpsychologisch unser auf Gründen basierendes bewusstes Handeln untersucht wird, ist das ein Widerspruch in sich, weil das Experiment Bedingungen setzt, mit denen man gesetzmäßig erfolgende Reaktionen erkennen will. Der Psychologe Klaus Holzkamp hat daher in diesem Zusammenhang einmal davon gesprochen, der Behaviorismus (die Reiz-Reaktions-Psychologie) verfolge einen „kontrollwissenschaftlichen Ansatz“, der Menschen auf das gleiche Niveau wie nicht bewusste Organismen stelle, also einen Teil der Evolution ausblende. Dem hat er eine „subjektwissenschaftliche Psychologie“ gegenübergestellt – mit einer gleichwohl alles anderen als einer voluntaristischen Methodologie. Und in den Geschichtswissenschaften hat man, weil es wieder um andere Gegenstände geht, nämlich historische Tatsachen, auch wieder einen anderen Methodenkanon.
Unterschiedliche Wissenschaftsverständnisse sind also je nach Fach und Gegenstand natürlich gegeben, aber innerhalb der Fächer muss man sich wieder darum bemühen, Aussagen, die gut begründet sind, von Aussagen zu trennen, die gute Gründe gegen sich haben, und zwischen den Fächern darum, dass man nicht leichtfertig die jeweiligen Grenzen der Aussagemöglichkeiten überschreitet. Aus der „wissenschaftlichen Tatsache“, dass Menschen nicht nur auf Reize reagieren, folgt nicht, dass Elektronen auch darüber nachdenken, was sie tun, und umgekehrt. Dass es gerade in dem Verhältnis zwischen Psychologie und Physik noch offene Baustellen gibt, pfeifen die Spatzen von Dächern und das war hier auch mehrfach in der Diskussion, aber das rechtfertigt nicht den esoterischen Fehlschluss, dass man dann doch z.B. auch die Informationsübertragung von verdünntem Sonnenschein auf Zucker und von dort in den Körper annehmen kann. Dagegen sprechen eben gute, sehr gute Gründe.
Als Fazit:
Dass die Wissenschaft ein sozialer Prozess ist, ist trivial und das historische Gewordensein von „wissenschaftlichen Tatsachen“ ist genauso trivial. Es gäbe sonst keinen wissenschaftlichen Fortschritt, wissenschaftliche Schritte zur Seite eingeschlossen. Für Angst vor der Wahrheit (Paul Boghossian) gibt es dennoch keinen Grund, die Realität verschwindet deswegen weder im Beliebigen noch bekommt sie Geschwister, die nur dem alternativen Denken und nicht der Wissenschaft zugänglich sind. Wer Ludwik Fleck bemüht, um in scheinbarer Kritik an einem zu engen Wissenschaftsverständnis anderes zu suggerieren, offenbart nur das Elend seiner Kritik.
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