Ganz schwierige Verhältnisse
Deutlich raffinierter ging die Industrie im Falle einer anderen „Brüsseler Deklaration“ vor, die Anfang letzten Jahres veröffentlicht wurde:„The Brussels declaration on ethics & principles for science & society policy-making“. Das Papier wurde breit rezipiert und sogar in Nature kritiklos angekündigt. Es enthält viele Punkte, die man akzeptieren kann, aber das Papier hat auch eine dunkle Seite. Wie Richard Horton, Herausgeber des renommierten Lancet, damals schrieb, hatte er 2012 an einem Meeting über Harm Reduction in Brüssel teilgenommen. Eingeladen hatte die wissenschaftliche Chefberaterin des damaligen EU-Kommissionspräsidenten Barroso. Dieses Treffen und vier weitere wurden von der Agentur SciCom organisiert. Die Teilnehmer, darunter viele über jeden Zweifel an ihrer wissenschaftlichen Integrität erhabene Wissenschaftler, finden sich nun im Anhang dieser Brüsseler Deklaration wieder. Horton dazu: „the Declaration suggests that we supported it – a clear manipulation of the truth“. Auch andere Teilnehmer reiben sich verwundert die Augen, wie sie in diese Sache geraten sind.
Die Kritik rührt daher, dass an dem Treffen auch Industrievertreter teilgenommen haben und es ihnen – die Agentur SciCom lässt grüßen – offensichtlich gelungen ist, für sie wichtige Punkte in diesem Dokument zu verankern und durch die Konstruktion des Papiers den Anschein zu erwecken, dass alle Teilnehmer der Meetings dahinter stehen.
Unanständige Verhältnisse
In dem Papier kann man dann z.B. lesen, „that it is in all our interests that we benefit from ‘evidence-based policy-making’ rather than suffer ‘policy-biased evidence’.” Völlig richtig, aber ob ausgerechnet die Industrie glaubwürdig dafür eintreten kann?
Die Industrie beansprucht in dem Papier, dass ihre Stimme gehört wird – als ob das bisher nicht der Fall sei und sie nicht über ihre Lobbyisten die Abgeordneten ohnehin zur Genüge mit ihren Ansichten überfluten würde. Aber mehr noch, dieses Recht wird daran festgemacht, dass sich die Industrie als wichtigster Player in der Wissenschaft sieht: „As the largest investor in knowledge generation, technology and science, it has every right to have its voice heard.“ Wer zahlt, schafft an. Weiter: Interessenkonflikte zwischen Kommerz und Wahrheit seien dabei nicht das wichtigste Problem, da, und jetzt kommt ein echter Hammer, der Wissenschaft viel ernstere Interessenkonflikte zu schaffen machen würden: „commercial conflicts of interest are fairly easy to deal with if they are properly declared and the relationship between the science and the marketing made explicit. Ideological, personal or academic conflicts of interest, on the other hand, are much harder to detect or deal with.“ Ein Aufruf an die medizinischen Fachzeitschriften, wieder alles zu drucken, was die Tabakindustrie so fördert, es reicht ja, es offenzulegen?
Aber auch damit noch nicht genug: „Scientists need to recognise that they are advocates with vested interests too – in their case, in their own science.” Den Satz sollte man mehrmals lesen und etwas hin- und herwenden. Da wird das wissenschaftliche Denken an sich zu einem „berechtigten“ Interesse, „too“ – wie andere Interessen auch. Vielleicht sollten die Wissenschaftler künftig angeben, dass sie einen Interessenkonflikt haben, weil sie Wissen schaffen wollen und das den Interessen der Industrie zuwiderlaufen könnte? Die feinen Wissenschaftler sollen jedenfalls mal vom hohen Ross herunter: „They need to be less aloof, perhaps even less arrogant“. Schließlich hat die Politik immer abzuwägen, da ist die Wissenschaft eben nur eine Stimme. Im Prinzip richtig, aber in diesem Kontext klingt das komisch.
Jim McCambridge, Mike Daube und Martin McKee haben gerade in Tobacco Control die Geschichte der neuen Brüsseler Deklaration und die Einflussnahme insbesondere der Tabak- und Alkoholindustrie nachgezeichnet: “Brussels Declaration: a vehicle for the advancement of tobacco and alcohol industry interests at the science/policy interface?“ Sie sehen sich an die früheren Aktivitäten der Tabakindustrie zu „sound science“ und „guter epidemiologischer Praxis“ erinnert (die im deutschen Sprachraum publizierte „Gute Epidemiologische Praxis“ hat damit meines Wissens aber nichts zu tun, das nur nebenbei). Zu Recht monieren sie, dass das Papier zwar mehr Transparenz in der wissenschaftlichen Politikberatung anmahnt, aber selbst auf höchst intransparente Weise zustande kam, Wissenschaftler vereinnahmt, die die Thesen des Papiers höchst kritisch sehen und dass auch unklar ist, welche Rolle z.B. die Tabak- und Alkoholindustrie gespielt hat.
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