Versorgungsplanung
Vor zwei Monaten war auf Gesundheits-Check die aktuelle Diskussion um die psychotherapeutische Versorgung schon einmal Thema. Im Kern geht es darum, dass die lange im Hintergrund verborgene Krankheitslast bei den psychischen Störungen zunehmend als Versorgungsnachfrage in Erscheinung tritt. Man weiß seit langem, dass mindestens ein Viertel der Bevölkerung klinisch relevante Symptome aus dem Spektrum der psychischen Störungen hat und dass auch gravierende Erkrankungen zu spät oder gar nicht im Versorgungssystem ankommen.
Im geplanten Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) geht es unter anderem darum, den langen Wartezeiten auf eine Psychotherapie (ca. 20 Wochen) mit einem gestuften Versorgungskonzept zu begegnen. Allerdings ist die konkrete Ausgestaltung so angedacht, dass eine begutachtende Stelle vorab entscheiden soll, wer zum Psychotherapeuten weitergeschickt wird und wer z.B. nur eine psychosoziale Beratung bekommt oder beim Hausarzt versorgt wird. Das hat aus verschiedenen Gründen zu heftigen Protesten bei den Psychotherapeuten-Verbänden geführt, was sogar wiederholt in der Tagespresse seinen Niederschlag gefunden hat – bei dem Thema nicht gerade der Normalfall. Die „Begutachtungslösung“ würde eine zusätzliche Hürde für Menschen mit psychischen Störungen aufbauen, die sich ohnehin schon schwer tun, Hilfe zu suchen. Mehr Therapieplätze gäbe es dadurch nicht. Den Psychotherapeuten würde man so die Fähigkeit absprechen, im Rahmen der erst vor kurzem eingeführten „Psychotherapeutischen Sprechstunde“ einen Therapiebedarf und dessen Dringlichkeit zu erkennen. Für die Patienten ginge das Erstzugangsrecht zur fachärztlichen Versorgung in diesem Bereich verloren, die Psychotherapeuten würden zu einer Art „Beauftragungstherapeuten“ mutieren. Nach 24 Therapiestunden muss übrigens sowieso auch jetzt schon ein Gutachter eingeschaltet werden, wenn es weitergehen soll. Insgesamt würde das TSVG ein richtiges Grundanliegen – die Versorgungsnachfrage vernünftig zu steuern – handwerklich auf denkbar schlechte Weise umsetzen.
Parallel dazu wird die Bedarfsplanung insgesamt reformiert. Der Gemeinsame Bundesausschuss hatte dazu ein Gutachten in Auftrag gegeben, das von einem Verbund von Versorgungsforschern erstellt wurde, ziemlich umfangreich ist und komplexe Modellrechnungen enthält. Die Psychotherapie wird dort ebenfalls betrachtet. Die Gutachter kommen auf einen Mehrbedarf von ca. 2.500 Psychotherapeuten in Deutschland. Die Bundespsychotherapeutenkammer kritisiert, dass dem keine echte, an der Morbidität orientierte Bedarfsabschätzung zugrunde liegt, sondern im Prinzip doch wie in der alten Bedarfsplanung die Ist-Situation als quantitativer Anker beibehalten wird.
Untiefen der Versorgungsplanung
Viel Spott hat sich Gesundheitsminister Spahn zugezogen, als er im Zusammenhang mit dem TSVG-Entwurf sagte, der Bedarf an Psychotherapie würde durch das Angebot an Psychotherapeuten stimuliert und die Wartezeiten seien dort am höchsten, wo es die meisten Psychotherapeuten gäbe. Die Stadt Freiburg nannte er als konkretes Beispiel: „Die Stadt mit dem höchsten Versorgungsgrad in der psychotherapeutischen Versorgung ist Freiburg; die Stadt mit den längsten Wartezeiten ist – Freiburg.“ Das ist alles falsch. Ob Spahn sein Fachreferat nicht gefragt hat oder nicht auf sein Fachreferat gehört hat, ich weiß es nicht.
Aber letztlich ist das auch egal. Der Punkt, auf den ich hinaus will, sind nicht alternative Fakten. Es geht mir darum, dass in dieser Diskussion eine ganz fundamentale Verteilungsfrage aufgebrochen ist: Welche psychischen Beschwerden sollen als „Behandlungsbedarf“ gelten, wie sollen dieser Behandlungsbedarf im Zusammenspiel der Hilfeangebote versorgt werden und wie spielt in die Antworten darauf die Frage hinein, wie viel Geld wir als Gesellschaft für die professionelle Versorgung psychischer Probleme ausgeben wollen.
Beschwerden, Erkrankungen, Behandlungsbedarf, solidarisch finanzierter Behandlungsbedarf
Die saloppe Haltung des G-BA-Vorsitzenden Hecken, dass es bei manchen psychischen Problemen auch ein Bier tut, ist irgendwo aus der Lebenserfahrung heraus zwar nachvollziehbar, aber missverständlich und wurde, weil damit die oben angesprochene Differenzierung des Versorgungsbedarfs ignoriert wird, seinerzeit zurecht heftig kritisiert. Hecken hat das auch eingesehen. Natürlich sind nicht alle psychischen Beschwerden behandlungsbedürftig. Aber welche sind es? Es hängt nicht nur von der Schwere des Problems ab. Auch bei leichteren psychischen Beschwerden kann eine qualifizierte Behandlung geboten sein, um eine Chronifizierung bzw. unerwünschte soziale Folgen zu vermeiden. Das gilt insbesondere bei Kindern und Jugendlichen: Verlieren sie z.B. ein Schuljahr, weil man sich nicht um eine Sozialphobie gekümmert hat, ist das sicher keine gute Versorgungssteuerung gewesen, auch wenn sich das Kind an vielen Tagen zuhause bei geringem Leidensdruck halbwegs wohl gefühlt haben mag und man früher das Problem mit einer Tracht Prügel „gelöst“ hätte. Bier wäre in dem Fall übrigens ebenfalls nicht die ideale Lösung. Sind Globuli die Alternative? Das Abdrängen solcher Beschwerden in die Pseudopsychotherapie der alternativmedizinischen Angebote? Andererseits sollte man aber einem solchen Kind auch keine schwere psychische Diagnose verpassen, nur damit es schnell einen Therapieplatz bekommt – dafür aber später vielleicht keine Berufsunfähigkeitsversicherung mehr.
Finanzierung und öffentliches Interesse
Wie also umgehen mit den „leichten Fällen“? Ganz identisch mit dem Schnupfen, mit dem man im Normalfall nicht zum HNO-Arzt muss, verhält es sich offensichtlich nicht. Ist es eher mit der Windpocken-Impfung zu vergleichen? Zurecht sagen Fachleute, die Menschheit würde nicht aussterben, wenn man nicht gegen Windpocken impfen würde, aber die gleichen Fachleute weisen ebenfalls zurecht darauf hin, dass eine Windpockeninfektion in gar nicht so wenigen Fällen doch recht ernste Folgen hat. Hier hat sich die STIKO, die Ständige Impfkommission beim Robert Koch-Institut, in Abwägung von Krankheitsbild und öffentlichem Interesse für die Impfempfehlung entschieden. Wie ist also das öffentliche Interesse bei den psychischen Störungen? Wie wichtig ist uns hier eine frühzeitige und ausreichende Versorgung auch leichterer Störungen? Wie wichtig die bessere und leitliniengerechte Versorgung schwerer Störungen? Wie viel wollen wir uns das als Gesellschaft kosten lassen, wie viel davon solidarisch in der gesetzlichen Krankenversicherung? Und wer soll auf welcher Grundlage darüber befinden? Es ist eine Frage des öffentlichen Interesses, und das erschöpft sich nicht in epidemiologischen Berechnungen.
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