Der folgende Text ist recht lang geworden. Aber nur Trump hätte es geschafft, das Thema im Umfang eines Tweets abzuhandeln. Und natürlich alle, die in den Kommentarspalten das gleiche Talent zeigen. Die brauchen den Text auch nicht zu lesen und dürfen gleich ihre Meinung dazu sagen.
Risikokompetenz und Interessenkonflikte
Dass Menschen keine interessenfreien Rechenautomaten sind, die Risiken neutral bewerten, ist bekannt. Wer daran Zweifel hat, mag den Bestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“ von Daniel Kahneman lesen, da geht es vor allem um Urteilsheuristiken und wie sie in die Irre führen können, oder das „Kleine Einmaleins der Skepsis“ von Gerd Gigerenzer. Dass auch die Wissenschaft selbst keine neutrale, quasi übermenschlich interessensfreie Veranstaltung ist, ist ebenfalls klar. Deswegen ist es guter Brauch, in wissenschaftlichen Publikationen, vor allem in den großen Medical Journals, Interessenkonflikte anzugeben. Bei den Wirtschaftswissenschaften oder in der Politikwissenschaft, den Wissenschaften, die primär mit Interessen zu tun haben, vermisst man das manchmal noch.
Aber zurück dazu, wie wir als normale Leute mit Risiken und den Studien dazu umgehen. Wenn unsere Interessen berührt sind, z.B. wenn Rauchverbote oder Fahrverbote drohen, argumentieren wir heute zwar gerne mit Aussagen von Wissenschaftlern oder Daten aus Artikeln, aber wir folgen dabei oft nicht wissenschaftlichen Regularien. Vor allem wird häufig darauf verzichtet, die eigene Argumentation selbstkritisch zu prüfen. Man sucht lieber Bestätigung für die eigene Meinung, weil sie Teil der Lebensführung ist, in die man sich eingerichtet hat und die man nicht so einfach aufgibt.
Dabei gehen Unwissen, Missverständnisse und gewollte Einseitigkeiten manchmal enge Verbindungen ein. Mehr Risikokompetenz, wie es z.B. Gerd Gigerenzer seit Jahren fordert, wäre wünschenswert. Ein paar typische Denkfehler und kränkelnde Argumente will ich im Folgenden anhand von Leserkommentaren zu einem SPIEGEL-Artikel über die Dieselgeschichte veranschaulichen. Bei den Zitaten habe ich die Schreibfehler stehen lassen, die Nicks der Kommentatoren weggelassen, darauf kommt es auch nicht an, man hätte genauso jeden anderen Artikel und die Kommentare dort nehmen können.
Spaziergang durch eine Kommentarspalte im SPIEGEL
„Die WHO hatte keine belastbaren Beweise. Die WHO legte per Pi mal Daumen was fest. Da haben keine Fachleute geprüft.“
Dieses Argument hört man oft. Es ist eine unzulässige Verallgemeinerung der Tatsache, dass epidemiologische Studien keine exakten, nach naturwissenschaftlichen Gesetzen ablaufende Vorhersagen liefern. Daraus macht der Kommentator, es gehe nur um Pi mal Daumen und die WHO-Bewertungen hätten keine Fachleute geprüft. Abgesehen davon, dass Pi mal Daumen besser ist als Nichts, fragt sich, wer „die WHO“ ist, wenn keine Fachleute beteiligt waren. Sitzen in den Arbeitsgruppen der WHO etwa keine Fachleute?
Das „Pi mal Daumen“-Argument könnte man übrigens genauso gut auf Dieter Köhlers seltsame Vergleiche anwenden. Er versucht ja mit grob geschätzten Vergleichen, also Pi mal Daumen, Zweifel an den Studiendaten zu wecken.
„Der Grenzwert von 40 Mikrogramm ist nicht von tausenden Wissenschaftlern ermittelt, sondern von der WHO 1997 geschätzt wurden. Man nahm an, dass eine dauerhafte Exposition in dieser Höhe keine gesundheitlichen Auswirkungen hat. Genau wie der 200 Mikrogramm Einstundenwert enthalten diese Werte Sicherheitsfaktoren in Höhe von 2.“
Das Argument einer WHO ohne Fachleute kehrt hier wieder. Hinzu kommt eine Verwechslung von politisch festgelegten „Grenzwerten“ und den wissenschaftlichen Empfehlungen der WHO, die bei der Grenzwertfestsetzung berücksichtigt werden, neben anderen Erwägungen wie z.B. der technischen Machbarkeit und den Kosten. Des Weiteren wird das Vorsorgeprinzip nicht verstanden. „Sicherheitsfaktoren“ für Langzeitbelastungen sind unverzichtbar, man kann Grenzwerte ja nicht so festsetzen, dass bei der Überschreitung schon kurzfristig gesundheitliche Folgen zu erwarten sind.
„Der Grenzwert ist nicht wissenschaftlich ermittelt, sondern willkürlich durch epidemiologische Untersuchungen festgelegt worden. Und als Laie und Bürger habe ich bei Gesetzen das Recht, dass sie präzise sind und auf Grund von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu stande kommen.“
Das Argument, die Grenzwerte seien nicht wissenschaftlich ermittelt worden, kommt hier in einer interessanten Variante, weil epidemiologische und wissenschaftliche Untersuchungen als Gegensätze dargestellt werden – so als ob ein Fahrrad kein Fahrzeug sei. Richtig ist, dass die Epidemiologie die Präzision, die der Kommentar – mutmaßlich für die Grenzwerte, nicht so sehr für „Gesetze“ an sich – fordert, meist nicht liefern kann. Aber soll man dann das Bad mit dem Kinde ausschütten und so tun, als wüsste man gar nichts? Das Einfordern unerfüllbarer Erwartungen an die wissenschaftliche Evidenz ist übrigens ein klassisches Element des Denialismus, der Leugnung wissenschaftlicher Evidenz.
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