Talk bei Lanz
Gestern waren der Gesundheitsminister Jens Spahn und der Psychiater Manfred Lütz bei Markus Lanz zu Gast. Drei Herren im Gespräch über ein schweres Thema. Lanz als Lanz, Spahn als Spahn und Lütz – äußerlich – als Sigmund Freud. Lütz trat für eine schnellere Behandlung schwerer psychischer Störungen ein. Das ist notwendig, hier auf Gesundheits-Check war die unzureichende Versorgung psychischer Störungen schon mehrfach Thema.
Lütz verfolgt allerdings eine Linie, die zu sehr aus der stationären Chefarztperspektive gedacht ist. Auch das hatten wir vor nicht langer Zeit hier schon einmal. Er möchte, dass „seine“ Patient/innen schnell einen Psychotherapieplatz bekommen. Vor 35 Jahren, als er in der Psychiatrie angefangen habe, so Lütz, habe er innerhalb von 3 Tagen einen Psychotherapieplatz bekommen, heute habe man Wartezeiten von fast 5 Monaten und das, obwohl es so viele Psychotherapeut/innen gebe.
Daten
Es stimmt, wir haben nach einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer Wartezeiten auf einen Therapieplatz von 19,9 Wochen, bei großen regionalen Unterschieden. Für die vor nicht allzu langer Zeit eingeführte psychotherapeutische Sprechstunde liegt die durchschnittliche Wartezeit bei 5,7 Wochen und für eine Akutbehandlung in dringenden Fällen bei 3,1 Wochen. Und wir haben den Daten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zufolge in der Tat im ambulanten Bereich so viele Psychotherapeut/innen wie nie zuvor. 2018 nahmen an der kassenärztlichen Versorgung 26.693 nichtärztliche Psychotherapeut/innen teil, darunter 5.892 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut/innen. Hinzu kommen 6.302 ärztliche Psychotherapeut/innen, 1.076 Kinder- und Jugendlichenpychiater/innen und die Bedarfsplanungsgruppe der Nervenärzte, Neurologen und Psychiater umfasst 5.876 Ärzt/innen, wobei hier viele nicht psychotherapeutisch tätig sind. Die privatärztlich tätigen Therapeuten kämen noch dazu, aber das ist eine andere Geschichte, Spahn will die kassenärztliche Versorgung regulieren.
Analyse oder Vorurteile?
Warum also diese Wartezeiten und warum hat es Herr Lütz so schwer, seine Patient/innen in einen Psychotherapieplatz zu vermitteln. Für Lütz liegt es daran, dass die Psychotherapieplätze von Leuten blockiert werden, die eigentlich keine Psychotherapie brauchen. Frau wird verlassen und ist dann in der Krise. Das ist bei Chefärzten alten Schlags eine gängige Erklärung. Wenn die Leute Lebenskrisen haben, so Lütz, sollen sie nicht zu Psychotherapeut/innen, die selbst keine Lebenserfahrung hätten (!), sondern z.B. in eine Beratungsstelle. Die Solidargemeinschaft solle schließlich keine psychotherapeutische Hilfe für solche Fälle finanzieren. Dass auch die Beratungsstellen irgendwie finanziert werden müssen und dass auch dort Fachpersonal benötigt wird, wenn man nicht auf Heilpraktiker oder Handaufleger zurückgreifen will, dazu sagt er nichts, vermutlich hat er sich darüber auch keine Gedanken gemacht. Hauptsache er kann „seinen“ Patient/innen einen Therapieplatz vermitteln.
Gestern und heute
Vor 35 Jahren war das vielleicht wirklich leichter, weil damals die psychischen Störungen derart tabuisiert waren, dass wirklich nur die ganz schweren Fälle behandelt wurden. Sie hatten keine „Konkurrenz“. Depressionen hatte man auszuhalten, der dorfbekannte Säufer galt nicht als suchtkrank, Kinder mit ADHS waren, glücklich waren die Zeiten, einfach nur Klassenkasper, die es halt in der Schule nicht weit brachten. Wo hätten sie auch hingehen sollen: Ambulante Psychotherapie gab es praktisch nicht und das gemeindepsychiatrische Angebot war noch schlechter als heute. Wo Herr Lütz damals überhaupt seine Therapieplätze herbekommen hat? Hatte er auch weniger Fälle? Die stationären Fallzahlen sind ja auch gestiegen, ganz besonders stark bei den Depressionen, auch die mittel schweren übrigens. Gleichzeitig sind die Verweildauern kürzer geworden.
Heute werden mehr psychische Störungen frühzeitig behandelt, bevor sie zu Herrn Lütz müssen, das ist gut so, aber trotz des Ausbaus des Versorgungssystems kann Herr Lütz jetzt die Sache nicht mehr mit einem Anruf regeln. Er möchte, da liegt er ganz auf Spahns Linie, dass eine gestufte Versorgung die Psychotherapieplätze von den Leuten freiräumt, die keine Psychotherapie brauchen. Ob es die wirklich in so relevantem Umfang gibt, weiß übrigens kein Mensch. Oder sagen wir, was man weiß, deutet nicht in die Richtung, dass ambulant ausgesucht leichte Fälle behandelt werden.
Für das Freiräumen sollen nach Lütz die ärztlichen Psychotherapeuten zuständig sein. Sie sollen als „gatekeeper“ die Patientenströme lenken und den anderen Psychotherapeut/innen dann über eine Verordnung „verbindlich“ zuweisen. Damit käme man, so Lütz, von 5 Monaten auf drei Wochen runter. Bei drei Wochen ist man aber bei der Akutbehandlung schon jetzt. Dafür wäre der Vorschlag von Lütz das Ende des Erstzugangsrechts der Patient/innen zur ambulanten Psychotherapie, also der freien Arztwahl, und dagegen wehren sich die Psychotherapeut/innen zu Recht. Deswegen ist die Bundespsychotherapeutenkammer für Lütz auch ein rotes Tuch: sie würde nur Lobbyismus betreiben. 200.000 Bürger/innen, die eine Petition gegen Spahns voreilige Regulierungspläne unterschrieben haben, haben den Lobbyismus unterstützt.
Wer braucht Psychotherapie, wer was anderes und wie soll es geregelt werden?
Wie gesagt, gegen eine bessere Steuerung in der Psychotherapie spricht nichts, erst recht nichts gegen eine bessere Verzahnung von stationärer und ambulanter Versorgung, wenn man Lützens Anliegen einmal vernünftig reformuliert. Kooperation und Vernetzung sind wegweisende Begriffe in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung. Gesetzlich Versicherte haben nach § 11 (4) SGB V sogar einen Anspruch auf Versorgungsmanagement, „insbesondere zur Lösung von Problemen beim Übergang in die verschiedenen Versorgungsbereiche; dies umfasst auch die fachärztliche Anschlussversorgung.“ Aber wie wäre das klug zu organisieren? Müssten tatsächlich die ca. 6.000 ärztlichen Psychotherapeut/innen die Abklärung des Therapiebedarfs für Millionen Patient/innen vornehmen, kämen sie wohl schnell ans Ende ihrer Kapazitäten und nicht wenige würden als reine Diagnostiker auch die Lust an ihrem Beruf verlieren. Dieses Modell ist eine Totgeburt, und das nicht, weil die Bundespsychotherapeutenkammer dem Lobbyismus frönt.
Manfred Lütz hat auch sonst einige Ideen von sich gegeben, die von Gedankenfäule befallen sind, z.B. dass die Psychotherapeutendichte Freiburgs auf den Bund hochgerechnet dazu führen würde, dass in 10 Jahren alle Bundesbürger eine Therapie hätten und die Therapeuten dann arbeitslos wären. Als Faschingsgag wäre das plump, als Argument in der Psychiatrieplanung ist das nur abwegig. Ganz davon abgesehen, dass die Lebenszeitprävalenz einer ernsten psychischen Störung bei ca. 50 % liegt, d.h. jeder Zweite muss in seinem Leben damit rechnen, einmal von einer psychischen Störung betroffen zu sein. Im Laufe eines Jahres, ich habe die Zahlen des RKI schon oft genannt, leidet etwa jeder Dritte unter einer psychischen Störung, viele davon werden zu spät behandelt.
Es gibt eben einen hohen Versorgungsbedarf in der Gesamtbevölkerung, nicht nur für die Patient/innen von Herrn Lütz.
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