Ein unbedachter Gesetzentwurf …
Beim Thema Impfen ist in diesem Jahr die irrationale Einstellung von Impfgegnern durch eine ebenso irrationale Kettenreaktion einer Impfpflichtbefürwortung in der Politik beantwortet worden. Nach einem Vorpreschen des Brandenburgischen Landtags und weiteren Impfpflichtforderungen aus der Politik hatte Gesundheitsminister Spahn in der von ihm inzwischen bekannten Schnellfeuermethode – erst Gesetzentwurf, dann Nachdenken – im Mai einen Entwurf für eine Masernimpfpflicht vorgelegt.
Der Entwurf geht von sachlich falschen Voraussetzungen aus. In der Problembeschreibung steht dort: „In Deutschland sind neben Kindern auch Jugendliche und Erwachsene von Masernerkrankungen betroffen. Dies zeigt, dass der eigentlich im Kindesalter vorzunehmende Impfschutz immer mehr vernachlässigt wurde.“ Der Impfschutz im Kindesalter wurde aber nicht „immer mehr vernachlässigt“, er ist im Gegenteil immer besser geworden. Und die Behauptung, die „angestiegenen Fallzahlen sind auf fortschreitende Impfmüdigkeit zurückzuführen“, ist gleich doppelt falsch, der Trend der Fallzahlen ist rückläufig, eine „fortschreitende Impfmüdigkeit“ gibt es nicht.
Die im Gesetzgebungsverfahren gebotene Abwägung von Alternativen zur Impfpflicht findet schlicht nicht statt. Im Gesetzentwurf heißt es: „Die bisherigen freiwilligen Maßnahmen zur Stärkung der Impfbereitschaft greifen nicht durch. (…) Ziel des Gesetzes ist eine deutliche Steigerung der Durchimpfungsraten, um auf diesem Wege die Ausrottung der Masern in Deutschland erreichen zu können. Nur so können die von der WHO vorgegebenen Ziele erreicht werden.“ Bei Punkt C „Alternativen“ steht lapidar: „Keine“.
Dabei besteht unter Fachleuten weitgehend Einigkeit, dass der Nationale Aktionsplan 2015 – 2020 zur Elimination von Masern und Röteln in Deutschland nicht konsequent umgesetzt wurde, d.h. die Möglichkeiten der „freiwilligen Maßnahmen“ wurden bei weitem nicht ausgeschöpft.
Der Gesetzentwurf sieht im Wesentlichen Sanktionen für impfunwillige Eltern vor, obwohl die Impfraten im Kindesalter recht gut sind und eine unkontrollierte Impfpflicht für Gesundheits- und Erziehungsberufe.
Der Entwurf ist unter Fachleuten umstritten, viele Impfexpert/innen lehnen ihn ab. Es gibt gut begründete Bedenken sowohl mit Blick auf die Umsetzbarkeit der Impfpflicht als auch mit Blick auf ihre Wirksamkeit und die Nebenwirkungen.
… und das Nachdenken darüber
Mit dem Hochkochen der politischen Impfpflichtforderungen hatte der Deutsche Ethikrat im April eine differenziertere Debatte zur Impfpflicht angemahnt und angekündigt, eine Stellungnahme vorzulegen. Das hat er vorgestern getan. Der Ethikrat betont darin den Nutzen der Masernimpfung und sieht die Masernimpfung nicht als Privatsache. Es gebe eine moralische Verpflichtung, sich und die eigenen Kinder impfen zu lassen. In der Abwägung der unterschiedlichen Rechtsgüter sieht der Ethikrat aber eine gesetzliche Impfpflicht für alle nicht für gerechtfertigt an, eine Impfpflicht für „Berufsgruppen in besonderer Verantwortung“ dagegen schon. Ärzt/innen, die Falschinformationen über das Impfen verbreiten, sollten zudem berufsrechtlich sanktioniert werden. Im Einzelnen empfiehlt der Ethikrat:
“1. Eine weitere Erhöhung der Masernimpfquoten ist anzustreben. Adressatinnen und Adressaten von Maßnahmen zum Erreichen dieses Zieles müssen sowohl Kinder als auch Jugendliche und Erwachsene sein. Es sollten gezielte Informationskampagnen durchgeführt werden, um insbesondere bei Erwachsenen ein Bewusstsein für die Bedeutung eines Impfschutzes gegen Krankheiten zu schaffen, die viele fälschlich für Kinderkrankheiten halten.
2. Niedrigschwellige Aufklärungs- und Impfangebote (zum Beispiel offene Impfsprechstunden für Berufstätige, regelmäßige Impftage an Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen oder durch den betriebsmedizinischen Dienst) sollten etabliert werden. Dem möglicherweise entgegenstehende administrative, insbesondere berufsrechtliche Hemmnisse sollten abgebaut werden. Sprachlichen und kulturellen Barrieren ist besonders Rechnung zu tragen.
3. Haus- und Kinderarztpraxen sollten verpflichtet werden, Impf-Erinnerungssysteme einzusetzen. Der Aufwand hierfür sollte angemessen erstattet werden.
4. Träger von Gemeinschaftseinrichtungen (§ 33 IfSG) und Einrichtungen des Gesundheitswesens sollten berechtigt und verpflichtet sein, sich Kenntnis über den Status relevanter Impfungen ihrer Beschäftigten zu verschaffen und diese auf eine ausreichende Vorbeugung durch individuelle Impfmaßnahmen hinzuweisen.
5. Alle Ärztinnen und Ärzte sollten fachgebietsübergreifend zur Durchführung von Impfungen qualifiziert und befugt werden; qualifizierende Impfkurse sollten zum verpflichtenden Inhalt des Medizinstudiums gehören. Der Stellenwert von Impfungen in der Aus-, Weiter- und Fortbildung von medizinischem und pädagogischem Personal (einschließlich der Bedeutung des eigenen Geimpftseins) sollte erhöht werden.
6. Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus sollten Zugang zu geschützten Impfmöglichkeiten erhalten; ärztlichen Hilfsorganisationen, die diese Option anbieten, sollte Rechtssicherheit garantiert und Unterstützung gewährt werden.
7. Die Einrichtung eines strukturierten nationalen Impfregisters ist zu empfehlen, um zukünftige Maßnahmen auf eine bessere Datenbasis zu stellen. Bei der Erhebung und Auswertung der Daten sollte auf regionale und soziale Besonderheiten geachtet werden, um Interventionen möglichst zielgenau gestalten zu können.
8. Nicht zu rechtfertigen ist die Durchsetzung einer Impfpflicht mittels körperlichen Zwangs („Zwangsimpfung“).
9. Der Deutsche Ethikrat hält es aus Gerechtigkeits- und Effektivitätserwägungen nicht für angeraten, Bußgelder oder sonstige finanzielle Sanktionen zur Erhöhung von Impfquoten zu verhängen.
10. Angesichts der gesetzlichen Schulpflicht ist eine über anlassbezogene zeitweilige Schulausschlüsse zur Gefahrenabwehr hinausgehende generelle Verknüpfung von Schulbesuch und Impfstatus abzulehnen.
11. Auch der generelle Ausschluss nicht geimpfter Kinder von vorschulischen Bildungs- und Erziehungseinrichtungen (Kitas, Horte, Tageseltern etc.) wird vom Deutschen Ethikrat abgelehnt. In besonderen Einzelfällen sollte der Ausschluss eines ungeimpften Kindes zur Risikovorsorge möglich sein.
12. Das bereits eingeführte Kontroll- und Beratungsregime des § 34 Abs. 10a IfSG sollte verschärft werden (Dokumentation des Impfstatus bei Aufnahme; jährliche Kontrolle des Impfstatus durch die Einrichtungen; regelmäßige aufsuchende Beratung mit Impfangebot vor Ort durch Gesundheitsämter bzw. von diesen beauftragte Ärztinnen und Ärzte).
13. Mit Ausnahme eines Mitglieds befürwortet der Deutsche Ethikrat eine mit Tätigkeitsverboten sanktionierbare Impfpflicht für Berufsgruppen in besonderer Verantwortung. Dies betrifft in erster Linie Personal im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen.
14. Würde eine staatliche Impfpflicht eingeführt, müsste die praktische Möglichkeit geschaffen werden, nur gegen diejenige Krankheit zu impfen, auf die sich die Pflicht bezieht. Dementsprechend wäre sicherzustellen, dass die entsprechenden Monopräparate verfügbar sind.
15. Gegenüber Ärztinnen und Ärzten, die öffentlich (insbesondere in sozialen Medien) Fehlinformationen über die Masernimpfung verbreiten, sind berufsrechtliche Sanktionen vorzusehen.“
Die Stellungnahme des Ethikrats ist in einer Langfassung und einer Kurzfassung online abrufbar. Es wäre zu wünschen, wenn Spahn seine telematikinfrastrukturdebattengestärkte Digitalisierungskompetenz nutzt und wenigstens die Kurzfassung einmal anklickt. Das Gesetzgebungsverfahren kann davon nur profitieren.
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