In der Süddeutschen Zeitung ist heute ein großer Artikel „Leider ausgebucht“ über die Probleme, Kinder stationär zu versorgen. Das Thema geht seit kurzem immer wieder durch die Medien, oft aufgehängt an dramatischen Fällen, bei denen Kinder von Kliniken abgewiesen werden mussten, weil keine Betten frei waren. Über diese Situation muss gesprochen werden, insbesondere auch mit Blick auf die Vergütungsstrukturen in diesem Versorgungssegment und den Mangel an Pflegekräften.
Der Artikel wird in der gleichen Ausgabe von Felix Hütten kommentiert, einem Wissenschaftsredakteur des Blatts, kosmopolitisch sozialisiert (er hat in Dresden, Berlin und Lyon Medizin und Politikwissenschaft studiert) und seinem jugendlichen Alter entsprechend daten- und technikaffin. Er schreibt unter dem Titel „Mehr Effizienz wagen“:
„Wer ernsthaft den Pflegemangel bekämpfen will, muss – neben vielen weiteren Maßnahmen – die Medizin endlich aus ihrem analogen Tiefschlaf reißen. Das zeigt der Alltag, etwa wenn ein Krankenpfleger bei Patienten Fieber misst. Er muss die erhobenen Werte oftmals mit einem Stift in eine Papierakte eintragen. Das kostet pro Patient schätzungsweise zehn Sekunden. Bei etwa 360 000 Patienten, die täglich stationär in deutschen Kliniken behandelt werden, entspricht das 1000 Stunden Arbeitszeit – nur fürs Fiebermessen. 1000 Stunden für eine Tätigkeit, die via Bluetooth fehlerfrei und automatisch erledigt werden könnte. 1000 Stunden Arbeitszeit am Tag, die man in die Pflege schwerkranker Kinder stecken könnte.“
Um Missverständnisse zu vermeiden: Wenn man die Fiebermessung automatisch dokumentieren kann, soll man das tun. Dass die Werte händisch notiert werden, trägt nichts zur Versorgungsqualität bei. Aber dass man durch das Einsparen von mehrmals 10 Sekunden beim Fiebermessen tatsächlich anderweitig nutzbare Pflegekapazität kumulieren kann, ist eine absurde Vorstellung. Sie ist Ausdruck einer ansonsten eher bei Betriebswirten rückenmarkverinnerlichten Minutenökonomie, nach der das „Humankapital Pflegekraft“ keine Sekunde unnötig neben einem Patientenbett stehen soll, das „Patientengut“ muss schließlich effizient bewirtschaftet werden. Auch 20 mal Fiebermessen ergeben nach Hüttens Rechnung pro Pflegekraft gerade mal 200 Sekunden, also gut drei Minuten. Damit wird diese Pflegekraft keinen wesentlichen Beitrag zur Linderung des Pflegenotstands leisten können und hochgerechnet auf alle Pflegekräfte der Republik ergibt das zwar eine rechnerisch beeindruckende, aber faktisch nicht sinnvoll nutzbare Zeit. Mich erinnert das eher an die alte Glosse von der Effizienzsteigerung eines Orchesters, indem man jede zweite Note weglässt und die langsamen Passagen etwas schneller spielt.
Nur nebenbei: 2017 gab es in Deutschland 19.853.165 Krankenhausfälle mit einer durchschnittlichen Verweildauer von 7,3 Tagen. Das ergibt etwa 145 Mio. Belegungstage im gesamten Jahr oder 400.000 Fälle pro Tag, also in der Größenordnung nahe der Zahl, die Felix Hütten vermutlich auf der Basis etwas älterer Ausgangsdaten genannt hat. Aber wie oft wird eigentlich bei einem Krankenhauspatienten Fieber gemessen? Bei jedem Patienten jeden Tag? Doch eher nicht.
Statt mit solchen Rechenübungen vorzuführen, dass multiplikative Werte nicht unbedingt reale Werte sind, sollte man besser die Krankenhauslandschaft reformieren, vermeidbare Krankenhausfälle ambulant versorgen, die Pflegeberufe attraktiv machen und die Vergütungsstrukturen bedarfsgerecht nachjustieren. Spahn, pack’s an!
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