Tempolimit: Das, dessen Namen man nicht nennen darf
Im Prinzip ist Gesundheitspolitik ganz einfach: Man schaut, wie die Datenlage zu einem Problem ist und entscheidet dann unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen, z.B. der Interessen in der Bevölkerung oder der finanziellen Spielräume. Aber wenn es starke gegensätzliche Interessen gibt, wird die Datenlage oft diffus. Jede Seite bemüht ihre Daten, ihre Gutachten, ihre Experten. Das ist beim Passivrauchen nicht anders als beim Glyphosat oder – ganz aktuell – beim Tempolimit.
Der Streit um ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen ist gerade wieder einmal aufgeflammt. Die Grünen haben darüber vor kurzem im Bundestag abstimmen lassen. Die Regierung war gegen das von den Grünen beantragte Tempolimit. Jetzt will die SPD doch eins und die Union ist noch immer dagegen. Über ein Tempolimit auf Autobahnen wird in Deutschland ähnlich emotional diskutiert wie in den USA über Verschärfungen des Waffenrechts. Hier wie dort ist Freiheit in den Köpfen mancher Leute offensichtlich an einen Fetisch gebunden. Beim freien Rasen sind wir Deutschen allerdings weltweit ziemlich alleine, zusammen mit einer Handvoll Länder wie Nordkorea, Somalia, und Afghanistan. In Europa gibt es in allen Ländern, die Autobahnen haben, ein Tempolimit, meist 120 oder 130 km/h.
Bei der Forderung nach einem Tempolimit spielen unterschiedliche Zielvorstellungen eine Rolle, von der Verkehrslenkung über die Schadstoffreduktion und die Lärmminderung bis hin zur Unfallverhütung. Und natürlich ist auch der Elefant im Raum, der, dessen Namen man nicht nennen darf. Ich will im Folgenden aber nur auf die Unfälle etwas näher eingehen.
Trends und trendige Schlussfolgerungen
Vom Trend der letzten Jahrzehnte her gesehen, ist die Geschichte der Verkehrsunfälle eine Erfolgsgeschichte. Im Jahr 1970 gab es 21.332 Verkehrstote, 2018 waren es nur noch 3.275. Das ist etwa das Niveau von 1910, damals gab es noch fast keine Autos. Noch besser wäre natürlich das Niveau von 1906, da wurden gerade mal 51 Verkehrstote gezählt, nahe an der „Vision Zero“, die man heute verfolgt. Dahin ist es noch ein weiter Weg, aber immerhin, gegenüber 1970 sind es heute bei weitaus mehr Autos auf den Straßen 85 % weniger Verkehrstote. Dafür sind Vorschriften wie der Sicherheitsgurt und die Kopfstützen, auch sonst mehr Sicherheitstechnik in den Autos, bessere Straßen, eine bessere Verkehrsführung, bessere Fahrschulen, die Promillegrenze beim Alkohol, der Ausbau der Rettungsdienste und der Notfallmedizin und viele andere Faktoren verantwortlich.
Die Frage ist, wie soll es jetzt weitergehen. Seit 2016 stagniert die Zahl der Verkehrstoten mehr oder weniger und die Zahl der Verletzten im Straßenverkehr stagniert seit 10 Jahren. 396.018 Unfallverletzte gab es 2018. Auch bei den Verletzten war 1970 das Rekordjahr – mit 578.032 Verletzten.
Betrachtet man die Verkehrstoten und die Verletzten speziell auf den Autobahnen, so stellt man zum einen fest, dass sie gegenüber dem Stand von vor 20 Jahren ebenfalls rückläufig waren, zuletzt stagnierend, zum anderen, dass sie nur einen vergleichsweise kleinen Teil der Gesamtzahl der Verunglückten im Straßenverkehr ausmachen:
Gibt es angesichts dieser Zahlen somit vielleicht gar keinen Anlass, über ein Tempolimit auf Autobahnen nachzudenken? Ist es tatsächlich „gegen jeden Menschenverstand“, wie Verkehrsminister Scheuer es einmal ausgedrückt hat? In dem Zusammenhang ist ein Vergleich mit der Einführung der Masernimpfpflicht interessant. Auch bei den Masern war der Trend rückläufig und auch Sterbefälle infolge von Masern sind verglichen mit anderen vermeidbaren Todesursachen eher nachrangig, verglichen mit den Verkehrstoten übrigens sogar geradezu marginal. Misst die Politik hier also mit zwei Maßstäben?
Vergleiche ohne Sinn und Verstand
Sie misst jedenfalls manchmal mit den falschen Maßstäben. Auch aus der Politik hört man gelegentlich, dass Länder mit Tempolimit nicht generell niedrigere Unfallzahlen hätten als Deutschland. Das stimmt. Wenn man sich die Daten des European Road Safety Observatory für das Jahr 2016 anschaut, so liegt Deutschland bei den Verkehrstoten je 1.000 km Autobahn bzw. autobahnähnlichen Straßen im europäischen Mittelfeld (ein paar kleine Länder mit von Jahr zu Jahr schwankenden Zahlen habe ich weggelassen).
Aber was bedeutet das? In diesem Ländervergleich kann man den Effekt von Tempolimits gar nicht sehen. Es sind ja nicht alle anderen Einflussfaktoren auf die Zahl der Autobahn-Verkehrstoten statistisch herausgerechnet. Und dass ein Tempolimit nicht der allein bestimmende Faktor bei den Verkehrstoten ist, ist nun mal keine umwerfende Erkenntnis.
Das Argument, dass auf den Autobahnen doch nur der kleinere Teil der Unfälle passiert und auf Landstraßen weitaus mehr Menschen ums Leben kommen, hat einen ähnlichen Defekt. Daraus folgt nämlich ebenfalls nichts in Sachen Tempolimit auf Autobahnen. Dass Rauchen mehr Sterbefälle verursacht als Alkohol, heißt ja auch nicht, dass man sich nicht mehr um einen verantwortungsvollen Alkoholkonsum bemühen müsste. Mit mehr Berechtigung könnte man sagen, die hohen Unfallzahlen der Landstraßen deuten darauf hin, dass das dort bestehende Tempolimit möglicherweise gesenkt werden sollte – aber die Debatte will ich nicht auch noch anfangen.
Richtig ist auch der Hinweis, dass es andere Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit gibt, z.B. verstärkte Geschwindigkeitskontrollen, verkehrsflexible Tempolimits, intelligente Fahrassistenzsysteme und vieles mehr. Aber welche Funktion hat der Verweis auf diese Maßnahmen? Geht es um Alternativen oder um Ergänzungen zum Tempolimit? Wenn die Maßnahmen ein Tempolimit überflüssig machen sollen, wo sind die Daten dazu?
Fehlende Evidenz?
Wie bei allen Interventionen, auch bei allen Präventionsmaßnahmen, wäre es gut, wenn es Studien gäbe, die mit einem klugen Design Autobahnen mit und ohne Tempolimit vergleichen. Man könnte zwar meinen, solche Studien gäbe es angesichts der Public Health-Relevanz des Themas zuhauf, aber weit gefehlt. Es gibt solche Studien praktisch nicht. Verwiesen wird immer wieder auf ein paar z.T. schon ältere Feldversuche in Brandenburg und Nordrhein-Westfalen, die eine Senkung der Unfallzahlen gezeigt haben, deren Aussagekraft aber von den Gegnern eines Tempolimits angezweifelt wird. Unstrittig ist allerdings, dass hohe Geschwindigkeit eine relevante Unfallursache ist. Dazu gibt es auch eine Reihe von internationalen Studien. Wenn also ein Tempolimit auf den Autobahnen die hohen Geschwindigkeiten kappt, müssten auch die Unfälle zurückgehen. Fachleute gehen davon aus, dass ein Viertel bis ein Drittel der Toten auf der Autobahn durch ein Tempolimit vermeidbar wären. Das wären immerhin 100 bis 140 Tote weniger jedes Jahr. Gesundheitspolitische Peanuts? Herr Spahn?
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