Entwicklungspsychologie, Psychotherapie, Erziehungs-Wissenschaft
Das sind nun weder Geschichten aus dem akademisch-psychologischen Elfenbeinturm noch alte, längst erledigte Zöpfe eines psychologischen Schulenstreits, sondern hochaktuelle Diskussionspunkte der verhaltenstherapeutischen Praxis. In der zweiten Ausgabe der „Neuen Folge Forum Kritische Psychologie“, einer Zeitschrift aus dem Umfeld der Subjektwissenschaftlichen Psychologie in der Tradition Holzkamps, diskutiert die Entwicklungspsychologin Gisela Ulmann die verhaltenstherapeutischen Grundlagen des Films „Elternschule“. Der Film zeigt Szenen aus einer Klinik in Gelsenkirchen, in der verhaltensauffällige Kinder stationär behandelt werden. Oder „erzogen“? Man sieht, wie Kinder zu therapeutischen Zwecken isoliert werden, festgehalten werden, absichtlich unter Stress gesetzt werden und mehr. Viele Zuschauer empfinden die Szenen als hart, die Klinik sieht sie wohl als „konsequent“. Ulmann beschreibt, wie der Ansatz der Therapeuten ihrem Anspruch, zu verstehen, was die Kinder bewegt, schon konzeptionell zuwiderläuft. Wer Kinder als „absolute Egoisten“ betrachtet, fragt nicht nach ihren Gründen, sondern presst sie in ein Schema. Wenn man das noch als genetisch bedingt ansieht, zudem in ein entwicklungspsychologisch unhaltbares Schema. Dafür kann man damit gut alltagspsychologische Vorstellungen der Art „Kinder brauchen Grenzen“ oder „Kinder müssen lernen, zu hören“ begründen. Die disziplinarisch anmutenden Interventionen mögen irgendwie „funktionieren“, aber irgendwie funktioniert es eben auch, am Morgen ohne Licht in der Küche zu sitzen, weil die Sonne „aufging“. Während es aber der Sonne egal ist, ob sie wirklich aufging und was wir über sie denken, ist das im Umgang mit Kindern anders. Ob Kinder lernen, auf Reize erwartungskonform zu reagieren, oder ob sie lernen, sich vernünftig in ihrer Umwelt zu verhalten, sind zwei Paar Stiefel.
Der Film hat im letzten Jahr erhebliche Diskussion in den Medien und sozialen Foren ausgelöst. Während z.B. die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie die therapeutischen Methoden der Klinik kritisiert, ebenso wie der Kinderschutzbund, werden sie seitens der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie verteidigt – und zwar genau mit dem Argument, sie seien „wissenschaftlich fundiert“ und leitlinienkonform. Kritik daran aus der Fachöffentlichkeit sei nur das Wiederaufleben überkommener Schulenstreitigkeiten. Das Argument ist etwas schwach, so als ob sich in der Physik eine Newton-Schule damit gegen die Kritik einer Einsteinschule verteidigen könnte. Und gegenüber der Kritik von Eltern heißt es in der Stellungnahme, hier stehe eben Wissenschaft gegen Emotionen. Mit Blick auf den Anspruch, zu verstehen, was Menschen bewegt, eine etwas irritierende Frontenbildung.
Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE) e.V. nahm demgegenüber zur „Bewährung von Theorien“ eine wissenschaftstheoretisch geradezu elaborierte Position ein:
„Wir möchten uns nicht an der Effektivität konkreter „Erziehungsmaßnahmen“ abarbeiten. Solange grund- und menschenrechtliche sowie berufsethische Fragen im Raum stehen, ist die Funktionalität der genannten Praktiken zum Erreichen bestimmter „Erziehungsziele“ völlig irrelevant. Einige der im Film gezeigten Praktiken sind aus unserer Sicht Folter oder zumindest folterähnlich.“
Mit seiner Kritik an der bloßen Funktionalität einer Methode als Ausweis dafür, dass sie wissenschaftlich richtig ist, trifft der Betroffenenverband genau den wunden Punkt eines naiven Empirismus. Was den Foltervorwurf angeht, müsste man sich die konkrete therapeutische Praxis der Klinik vor Ort ansehen, insbesondere, was es mit den im Film gezeigten freiheitsentziehenden Maßnahmen auf sich hat. Solche Maßnahmen sind in der Psychiatrie das letzte Mittel und an enge rechtliche Voraussetzungen geknüpft. Ein Film setzt immer auch „in Szene“ und vielleicht würde sich im Gesamtkontext der Eindruck mancher Filmszenen etwas relativieren, aber Foltervorwurf hin oder her: Wissenschaftlich und ethisch legitimiertes Handeln, Wissenschaft und Menschenrechte, sind in der Psychotherapie eng verknüpft. Nichts ist ethischer, als eine gute Theorie, um es mit Lewin zu sagen.
Wer sich mit dem Thema näher beschäftigen will, dem sei der online nachlesbare Kommentar des Kinderarztes Herbert Renz-Polster empfohlen, oder eben der Artikel von Gisela Ulmann.
Forum Kritische Psychologie – Neue Folge
Auch ansonsten stehen in der zweiten Ausgabe der „Neuen Folge“ des Forums Kritische Psychologie Methodenfragen im Mittelpunkt. Das Heft versammelt dazu Beiträge, die die methodologische Besonderheit eines „subjektwissenschaftlichen“ Ansatzes verdeutlichen.
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