In der Diskussion um die Corona-Politik gibt es gute und weniger gute Argumente. Ganz schlecht sind Argumente, die alten und kranken Menschen indirekt das Lebensrecht absprechen. Boris Palmer war der bisher prominenteste Vertreter solcher Ansichten: „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, so seine provokante Formulierung, mit der er nachher nicht gemeint haben wollte, was er gesagt hat, nämlich es lohne sich wegen der alten Leute doch alles gar nicht.
Vor kurzem hatte ich hier auch über einen Brief von fünf Herren an die Bundestagsfraktionen berichtet, der in die gleiche Kerbe schlug. Nur die AfD hat ihn aufgegriffen, kein Wunder. Die Wertschätzung der deutschen Oma beschränkt sich für manche Leute eben auf die Oma im Hühnerstall. Die im Pflegeheim ist ja in einem halben Jahr sowieso tot.
Einer der fünf, ein Herr Müller, formulierte schon im Zusammenhang mit dem Brief an die Fraktionen auf seiner Internetseite brutalstmöglich, die Politik müsse auch bereit sein, über Leichen zu gehen. Nun meint er, auch da wird er sicher Zustimmung von der AfD bekommen, Kritik an seinen Aussagen sei mittelalterliche Ketzerverbrennung:
„Wer früher die Macht Gottes und der Kirche angezweifelt hat, wurde als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Wer heute in einem Interview erwähnt, dass ein Drittel der Verstorbenen Bewohner von Alten- und Pflegeheimen sind, die dort im Durchschnitt 11 Monate nach ihrem Einzug versterben (Zitat: Wir retten Menschen, die möglicherweise sowieso bald sterben) wird danach von seiner eigenen Partei in den Medien öffentlich hingerichtet – Methoden des Mittelalters!“
Die Wehleidigkeit des Brutalstdenkers einmal beiseite gelassen – stimmt es denn überhaupt, dass die Menschen in den Heimen schon nach ein paar Monaten sterben? Im Barmer-Pflegereport 2019 gibt es dazu Daten. Demnach stirbt zwar fast die Hälfte der stationär Pflegebedürftigen innerhalb eines Jahres, aber ein Viertel lebt auch noch nach vier Jahren.
Im Barmer-Bericht gibt es auf der gleichen Seite auch eine Kurve mit den Überlebenszeiten nach Heimeintritt. Daran kann man etwas besser ablesen, wann die Hälfte der Bewohner/innen verstorben ist, also am Median gemessen, wo der Mittelwert der Überlebenszeit liegt: bei 18 Monaten, immerhin eineinhalb Jahren.
Das gilt für die Heimbewohner/innen insgesamt. Die Überlebensdauer hängt erwartungsgemäß sehr stark vom Pflegegrad ab. Bei Pflegegrad 1 leben nach einem Jahr noch drei Viertel der Heimbewohner/innen, nach zwei Jahren noch zwei Drittel.
Darauf, dass natürlich ohnehin nicht nur alte und kranke Menschen in Heimen an Corona sterben, sei nur der Vollständigkeit halber hingewiesen. Die Lebenszeitverluste insgesamt dürften gar nicht so gering sein, auch wenn man die bisherigen Analysen dazu vielleicht mit Vorsicht betrachten muss. Wer also ethisch falsch argumentiert, sollte nicht auch noch numerisch falsch argumentieren, sonst liegt die Vermutung nahe, dass die falschen Zahlen der Unmoral dienen sollen.
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