Wolfgang Wodarg gehört seit geraumer Zeit zu den einseitig Besorgten. Ich nehme ihm unbesehen ab, dass er sich sorgt, welche Nebenwirkungen der Lockdown hat. Die Sorge, dass diese Nebenwirkungen in der Politik zu wenig Beachtung finden, war zumindest zeitweise berechtigt, das haben viele Beobachter kritisiert. Seit geraumer Zeit ist das aber nicht mehr so, hier sei nur auf die milliardenschweren Hilfspakete verwiesen.
Anders als Wodarg sehe ich aber auch die zunehmend in Studien belegten positiven Effekte eines Lockdowns. Dass solche Maßnahmen wirksam sind, zeigt sich übrigens nicht nur an den SARS-CoV-2-Zahlen, sondern, wie schon mehrfach angemerkt, auch am Rückgang einer ganzen Reihe anderer Infektionen, von den Noroviren bis hin zu den Masern. Leider reicht es bei uns wohl nicht zur Elimination der Masern, aber das ist eine andere Geschichte.
Und anders als er suche ich bei den Folgen des Lockdowns auch nicht nur danach, was meine Meinung stützen könnte. Der confirmation bias ist schließlich eine bekanntermaßen süße Versuchung für alle meinungsstarken Rechthaber. Dieser Versuchung sollten sie, sollten wir, daher so gut es geht widerstehen.
Aber Wodarg frönt dem confirmation bias mit einer beeindruckenden Hingabe. Nachdem er lange Zeit wider alle Evidenz jedwede Übersterblichkeit bestritten hat, hat er jetzt eine ihm gefällige Erklärung dafür: Der Lockdown war’s. Dazu übernimmt er unbesehen Grafiken aus einem Online-Forum, die für eine Reihe von Regionen in der Welt den Anstieg der Sterbefälle mit dem Zeitpunkt des Lockdowns in Verbindung bringen. Er sucht nicht danach, ob es Regionen gibt, bei denen das nicht so ist, ob hier also womöglich ein cherry picking vorliegt. Er prüft auch nicht, ob der Anstieg der Sterbefälle in den ausgewählten Regionen in gleicher Weise dem Anstieg der Infektionen folgt, und der Rückgang der Sterblichkeit dem Rückgang der Infektionen. Das wäre doch das Mindeste, schließlich sind Lockdowns Reaktionen auf die epidemiologische Lage. Die Übersterblichkeit mit dem Lockdown zu erklären, müsste bei jedem, der das Wort Confounder schon einmal gehört hat, die Alarmglocken schrillen lassen: Vorsicht, Storchenstatistik. Dabei ist die Frage, ob der Lockdown auch selbst Sterbefälle verursacht hat, natürlich völlig legitim. Vielleicht hat die Angst mancher Menschen, bei Anzeichen von Herzinfarkt oder Schlaganfall die 112 zu rufen, die sich im Rückgang der Krankenhausbehandlungen auch bei diesen Diagnosen zeigt, ja auch Todesfälle nach sich gezogen. Eine empirische Frage, auf die belastbare Antworten noch ausstehen.
Da ist Wodarg ganz unbesorgt, er weiß die Antwort schon im Voraus, so wie er einmal wusste, dass es gar keine Übersterblichkeit gibt. Auch sonst denkt er nicht ansatzweise darüber nach, wie er seine Thesen kritisch prüfen könnte. Er hat schließlich eine Mission, da stören Zweifel nur. Es ist ein seltsames Phänomen: Gesellschaftskritiker werden zu Verschwörungstheoretikern, die „alternativen“ Stimmen zu einem dogmatischen Chor. Sie werfen dem „Mainstream“, im Jargon mancher Leute auch der „Systempresse“, Gleichschaltung vor, und merken gar nicht, dass sie beim Blick auf diese angebliche Gleichschaltung nur in einen Spiegel schauen. Vielleicht fällt es ja dem einen oder anderen noch auf.
——
Nachtrag 26.7.2020: Diagnostizierte Infektionen und Sterbefälle in den USA
Nach Trumps Lesart sterben jetzt wieder mehr Menschen, weil man so viel testet, nach Wodargs Lesart wegen neuer Lockdowns in den USA, auch wenn es die in den jetzt besonders betroffenen Bundesstaaten (noch) nicht gibt.
Kommentare (31)