Nicht nur die Politiker, auch die „Coronaskeptiker“ sind im Moment unter Druck, weil die Fallzahlen in vielen europäischen Ländern wieder steigen. Die einen wollen etwas dagegen tun, die anderen es nicht wahrhaben. Die Erklärung, die sie gebetsmühlenartig wiederholen: Mehr Fälle kommen durch mehr Tests.
Dass ein Teil des Anstiegs der Fälle durch mehr Tests zustande kommt, sagt auch das RKI, z.B. im Situationsbericht vom 25.9.2020. Aber darf man einfach annehmen, dass der Anstieg der Fälle einzig und allein durch mehr Tests zustande kommt? Und was würde daraus eigentlich folgen?
Gerade hat Harald Walach, der eigentlich keine Statistik-Nachhilfe braucht, aber beim Thema Corona gerne mal Zahlensalat serviert, dieses Spiel in einem neuen Blogbeitrag wieder durchexerziert.
Er stellt zunächst fest, dass sich die Positivenrate, also die Zahl der positiv Getesteten bezogen auf alle Getesteten, zwischen dem 15.8.2020 und dem 25.9.2020 nicht wesentlich verändert hat. Dem RKI-Situationsbericht vom 23.9.2020 zufolge ist sie zwar von der 35. zur 38. Kalenderwoche von 0,74 % auf 1,19 % leicht angestiegen, aber lassen wir das mal. Walachs Schlussfolgerung:
„Es gibt also wahrlich keinen Grund zur Aufregung – und die verbreitete Botschaft, es gebe steigende Zahlen, ist einfach und leicht sichtbar nur eines: falsch.“
Das Argument hinkt ersichtlich, weil demnach im Frühsommer bei stark steigenden Testzahlen die Fallzahlen nicht hätten zurückgehen dürfen. Gut, vielleicht gilt das Argument ja nur, wenn es ins Bild passt, also aktuell? Aber wie war das mit den Geburten und den Störchen? Sollte man nicht prüfen, was hinter der Korrelation zweier Merkmale stecken könnte? Wenn jemand positiv getestet wird, werden nämlich auch die Kontaktpersonen getestet. Das heißt, es gibt nicht nur eine Abhängigkeit der positiv Getesteten von der Zahl der Tests, sondern auch umgekehrt eine Abhängigkeit der Zahl der Tests von der Zahl der Positiven. Und bei der Untersuchung von Kontaktpersonen werden in der Tat immer wieder Infektionsketten aufgedeckt, das ist ja der Sinn der Sache. Mit forschen Behauptungen, Berichte über steigende Fallzahlen seien „einfach und leicht sichtbar nur eines: falsch“, sollte man also vorsichtig sein. Zumal in manchen Ländern auch die Krankenhausfälle und die Todesfälle zunehmen und Tests bekanntlich niemanden ins Krankenhaus oder ins Grab bringen.
Aber nehmen wir einmal an, Herr Walach hätte Recht und der gesamte Anstieg der Fälle ginge auf das Konto von mehr Tests. Dann würden wir in der Tat keine zweite Welle beobachten. Könnte man sich dann zurücklehnen? Oder würden wir stattdessen nicht ein fortschreitendes Aufdecken einer Dunkelziffer sehen, also vorher nicht erkannter Fälle? Denen müsste man genauso nachgehen wie zusätzlich auftretenden Fällen, weil sie genau wie alle Fälle Ausgangspunkt von Infektionsketten sein können. Und die führen vielleicht nicht nur zu jungen Leuten mit geringem Erkrankungsrisiko, sondern unbeachtet vielleicht auch in Heime.
Würde Herr Walach dann also wirklich Entwarnung geben wollen? Vermutlich ja, weil er für diesen Fall eine andere alte Story parat hat – die positiven Fälle seien eh nur falsch Positive:
„Die falsch-positiv Rate des PCR Tests liegt bei ca. 2.1%“
Damit wären alle Positiven, die man derzeit sieht, falsch Positive. Dabei hätte ihm die Diskrepanz zu seinem eigenen Satz unmittelbar davor doch ins Auge stechen müssen. Da schreibt er:
„Für Deutschland ist ein Rückgang von ohnehin niedrigen 2,17% positiver Tests auf 1,80% zu vermelden.“
Wie die 1,8 % positiver Tests und die 2,1 % falsch positiver Tests zusammenpassen, sollte er erklären. 0,3 % der angeblich falsch Positiven gehen irgendwo verloren. Wo sind sie geblieben? Es folgt noch ein seltsamer Trugschluss:
„Das anscheinende Steigen der Fallzahlen kommt von der vermehrten Testung!! Und wenn man dies in Rechnung stellt dann FALLEN die Zahlen (…).“
Weil es mehr Tests gibt, gibt es weniger Fälle? Obwohl nach seiner eigenen Darstellung die Positivenrate in den letzten vier Wochen mehr oder weniger stabil war? Ich versteh’s nicht. Ergo muss ich wohl mit Wieler, Drosten und Merkel in die Nachhilfe:
„Und wer in der Öffentlichkeit etwas anderes sagt, der lügt entweder, weil er die Öffentlichkeit absichtlich in die Irre führen will, oder er ist Zahlenanalphabet und sollte dann nicht die Funktion haben, öffentlich Zahlen zu kommunizieren.“
„Frau Bundeskanzlerin, Herr Wieler, Herr Drosten, alle Wissenschaftsredakteure der großen Zeitungen und vor allem die in den Fernsehanstalten: Sie sollten vielleicht einmal einen Nachhilfekurs in Statistik besuchen, um zu verstehen, wie man Zahlen interpretiert und kommuniziert.“
Ich habe gar nichts dagegen, wenn mir jemand Nachhilfe in Infektionsepidemiologie geben will, ich bin auf dem Gebiet schließlich nur interessierter Laie, aber vielleicht sollte Herr Walach einfach mit in die Nachhilfe kommen?
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Edit 27.9.2020: In der ersten Version stand, Herr Walach habe den Zeitraum vom 25.8. bis 25.9. verglichen, es ist der 15.8. bis 25.9.
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