Ja, es war richtig, die Dynamik der Epidemie im Frühjahr durch einschneidende Maßnahmen zu brechen und es ist richtig, jetzt nicht abzuwarten, bis auch die Bhakdis, Wodargs und Walachs angesichts der Leichenzahlen einräumen, dass alles nicht nur herbeigetestet ist und die Epidemie auch nicht vorbei ist. Die Entwicklung in unseren Nachbarländern, z.B. Polen oder Tschechien, lässt da wenig Interpretationsspielraum zu, aber auch in Deutschland ist schon seit einiger Zeit der Anstieg der intensivmedizinisch zu versorgenden Fälle und der Sterbefälle unübersehbar – wenn man nicht wegsieht.
Insofern: Die Krise ist natürlich die Stunde der Exekutive. Ein unvermeidliches Maß an Aktionismus und politischem Profilierungsgetue sei zugestanden. Aber zu Recht haben ernstzunehmende Stimmen, z.B. die Autorengruppe um Matthias Schrappe, frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass eine bessere Abwägung von Nutzen und Schaden der Infektionsschutzmaßnahmen notwendig ist. Das gilt für einzelne Maßnahmen wie Besuchsverbote in Heimen, Sperrstundenregelungen für die Gastronomie oder Beherbergungsverbote für Reisende aus Risikogebieten, und das gilt ganz besonders für globale Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens. Es gibt keine wirksamen Maßnahmen ohne Nebenwirkungen, beides muss auf die Waagschale, beides gegeneinander abgewogen werden. Die Gerichte erteilen da gerade Lehrstunden.
Im Moment steigen die Infektionszahlen sehr schnell. Wir sehen einen (temporären?) exponentiellen Anstieg, und es könnte sein, dass die alten Fragen aus dem Frühjahr, ob das Gesundheitswesen hinreichend gerüstet ist, ob die alten Menschen in den Heimen und die vulnerablen Gruppen mit Vorerkrankungen in angemessener Form geschützt werden können, erneut drängende Fragen werden. Man hört immer öfter, wir würden auf einen zweiten Lockdown zusteuern.
Ein zweiter Lockdown würde die Gesellschaft wohl mehr noch als der erste tiefgreifend und nachhaltig verändern – Kulturangebote, Mobilitätsmuster, das Ambiente der Innenstädte, die sozialen Verhältnisse, die Wirtschaft, internationale Verbindungen, eigentlich alles, nicht zuletzt das Vertrauen zwischen Gesellschaft und Politik. So sehr die Krise die Stunde der Exekutive sein mag: An Entscheidungen über die grundlegenden Ziele und Wege unseres Zusammenlebens müssen auch die Stakeholder der Gesellschaft beteiligt werden. Die Krise ist vor allem auch die Stunde der demokratisch legitimierten Politik, wie es der Deutsche Ethikrat im April formuliert hatte. Gutgemeinte Fürsorge darf nicht zur Entmündigung der Menschen werden. Die Forderung, die Parlamente stärker zu beteiligen, ist daher richtig.
Darüber hinaus sind deliberative Verfahren nötig, die allen Menschen mehr Beteiligung ermöglichen. Ihnen nur anzukündigen, welche Einschränkungen sie als nächstes hinzunehmen haben und dass sie diese aus Einsicht in die Notwendigkeit akzeptieren müssen, genügt nicht, egal wie gut echte oder vermeintliche Notwendigkeiten erklärt werden, auch wenn selbst das noch besser werden könnte. Sich daran zu erinnern, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, ist kein Querdenken, es ist die Besinnung darauf, dass wir, wenn es ans Eingemachte der Gesellschaft geht, alle Anspruch darauf haben, mitzureden, wie es weitergehen soll. Wir müssen reden, Jens!
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