Am 1. Oktober 2020 hat der Ministerrat in Bayern einen „Bayerischen Ethikrat“ eingesetzt. Er soll den Ministerpräsidenten und die Staatsregierung in Zukunftsfragen beraten. Am 3. Dezember 2020 fand die konstituierende Sitzung statt. Wegweisende Voten des Ethikrats sind bisher nicht bekannt. Stattdessen hat wiederholt eines seiner Mitglieder, der Inhaber des Peter-Löscher-Stiftungslehrstuhls für Wirtschaftsethik an der TU München, Prof. Christoph Lütge, durch ethisch bedenkliche Sprüche zur Coronapolitik für Aufmerksamkeit gesorgt. Er hatte wiederholt den Lockdown als völlig verfehlt und „mittelalterlich“ kritisiert. Das darf man natürlich tun und Hinweise auf die Kollateralschäden der Coronapolitik sollten geradezu das täglich Brot eines Ethikrats sein.
Allerdings hat Christoph Lütge seine Kritik mit ethisch höchst fragwürdigen Argumenten garniert. So wird er vom Bayerischen Rundfunk etwa mit der Position zitiert, dass an Covid-19 vor allem alte Menschen sterben, die den Aufwand nicht wert sind: „Diese Menschen wären ohnehin an anderen Krankheiten gestorben.” Solche Sätze aus dem Mund eines Ethikers sind bemerkenswert. Und nicht besonders intelligent, weil sie einen bekannten medialen Vorlauf haben.
Am 2. Februar hat das bayerische Kabinett seine Berufung in den Ethikrat widerrufen. Eine Blitzkarriere sozusagen. Der Vorgang geht jetzt durch alle Medien. Ob die Abberufung Lütges politisch klug war, ist fraglich. In der Süddeutschen Zeitung merkt Kurt Kister heute an, damit habe die Staatsregierung den Querdenkern einen neuen Märtyrer geschenkt. Man wird sehen. Jedenfalls war die Abberufung ethisch geboten. Ein Ethiker mit derartigen Positionen gehört in der Tat nicht in einen Ethikrat.
Darauf hätte man aber auch früher kommen können. Christoph Lütge ist in der von den Metallarbeitgebern geförderten „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ aktiv, eine Lobbyorganisation der Wirtschaft. Sein Lehrstuhl ist nach dem früheren Siemens-Chef Peter Löscher benannt, außerdem leitet er das von Facebook mit Millionen finanzierte „Institut für Ethik in der Künstlichen Intelligenz“.
Die Wirtschaft hat sich natürlich keinen kritischen Ethiker ins Nest gesetzt. Christoph Lütge vertritt die Auffassung, dass letztlich der Wettbewerb das ethisch Richtige herstellt. Wettbewerb sorge für Innovation, Demokratie und Wohlstand und sei von Natur aus machtkritisch. Es könne sich ja niemand sicher sein, dass eine einmal erreichte Machtposition nicht durch Wettbewerber ausgehöhlt werde. In einem Vortrag hat er die demokratie- und wohlstandsfördernde Wirkung des Wettbewerbs mit dem Verweis auf den Rückgang der Armut in China belegt. Im Allgemeinen gilt China nicht als lupenreine Demokratie, und auch nicht gerade als vorbildliche Marktwirtschaft ohne Funktionärseinflüsse und Korruption. Macht kann im Wettbewerb letztlich nur durch Kaufkraft infrage gestellt werden, wer nichts hat und es zu nichts bringt, hat im Wettbewerb auch nichts zu sagen. Wer sich damit näher beschäftigen will, dem sei das Buch „Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept“ von Ulrich Thielemann empfohlen.
Der Begriff „Wirtschaftsethik“ ist in dem Fall ohne Bedeutungsverlust durch „Wettbewerbsideologie“ zu ersetzen. Vielleicht dachte die Bayerische Staatsregierung, dass der gute Mann deswegen weltanschaulich prima in ihren Ethikrat passt. Was Christoph Lütge dachte, weiß man nicht, er will seinen Rauswurf nicht kommentieren. Daher weiß man auch nicht, ob er jetzt anders über Macht denkt. Über Ethik wird er sicher nicht anders denken als vorher, damit verdient er schließlich sein Geld. Der Ethikrat war ein Ehrenamt.
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Zum Weiterlesen:
• Ulrich Thielemann: Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept. Kritik des Neoliberalismus. Marburg 2010.
• Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes. Berlin 2012.
• Robert Skidelsky, Edward Skidelsky: Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. München 2013.
• Jonathan Aldred: Der korrumpierte Mensch. Die ethischen Folgen wirtschaftlichen Denkens. Stuttgart 2020.
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