In Deutschland ist gerade die sog. „Bundesnotbremse“ beschlossen worden, u.a. mit nächtlichen Ausgangsbeschränkungen. Solche Maßnahmen heißen im Infektionsschutzjargon „NPIs“, nichtpharmazeutische Interventionen, im Gegensatz zu Impfungen oder Medikamenten. Auch das Maskentragen oder die Abstandsregeln sind NPIs. Die Wirksamkeit solcher Maßnahmen zu bewerten, jenseits der Plausibilitätsebene, dass weniger Kontakte auch weniger Übertragungsmöglichkeiten bedeuten, ist ausgesprochen schwierig.
Beispielsweise ist die von Karl Lauterbach unter Bezug auf die „Oxford-Studie“ apodiktisch behauptete Wirksamkeit nächtlicher Ausgangssperren fragwürdig. Ob sich die Ergebnisse aus den dort betrachteten Ländern auf Deutschland übertragen lassen, was die Ausgangsbeschränkungen als add on zu den bereits ergriffenen Maßnahmen bringen und ob die lt. RKI echt geringe nächtliche Mobilität in Deutschland überhaupt größere Effekte erwarten lässt, ist durchaus diskussionsbedürftig. Eine Studie, die hessische Kreise mit und ohne Ausgangssperren verglich, also unter sonst weitgehend gleichen Rahmenbedingungen, hat keine Effekte gefunden. Kürzlich hat einer der Autor/innen der Oxford-Studie im Fernsehen Lauterbachs Behauptung als Missverstehen der Studie bezeichnet. Es gibt nicht zuletzt mit Blick auf die Ausgangssperren mehrere Verfassungsklagen gegen die Bundesnotbremse, man wird sehen, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet.
Aber manche Leute kritisieren die NPIs auf eine Weise, die man als Zahlenkabarett bezeichnen muss. Auf Harald Walach ist in solchen Sachen Verlass. In einem Blogbeitrag Anfang April listet er für einige Länder Corona-Sterberaten und einen Index auf, der die Zahl und Stringenz der NPI-Maßnahmen nach Ländern abbildet. Seine Länderauswahl begründet er nicht. Die bekannten Validitätsprobleme der Sterbefalldaten in vielen Ländern, etwa in Russland, kommentiert er nicht. Was mit dem Index anzufangen ist und was nicht, kümmert ihn auch nicht. Dass beispielsweise Brasilien zum Zeitpunkt seines Beitrags einen höheren NPI-Index hatte als Deutschland, hätte auch ihm komisch vorkommen können. Der Index wird von der Universität Oxford berechnet. Auf deren Internetseite wird ausdrücklich davor gewarnt, den Index als Bewertung der Qualität der NPIs in den Ländern zu interpretieren:
„Note that these indices simply record the number and strictness of government policies, and should not be interpreted as ‘scoring’ the appropriateness or effectiveness of a country’s response. A higher position in an index does not necessarily mean that a country’s response is ‘better’ than others lower on the index.“
Ich habe die Walachsche Tabelle nach vier Wochen um die aktuellen Daten ergänzt, man sieht jetzt, wie dynamisch sich der Index verändert – und dass er auch deswegen z.B. für Korrelationsberechnungen mit Sterbefalldaten sicher nicht ohne Weiteres nutzbar ist.
Genau das macht Walach aber. Er korreliert einfach für die ausgewählten Länder die beiden Zahlenreihen und stellt fest, dass es eine positive Korrelation von 0,64 gibt. Also würden NPIs, so Walach, nicht wirken, sonst müsste es eine negative Korrelation geben. Mit den aktuellen Daten ergibt sich übrigens eine Korrelation von 0,32, den zwischenzeitlichen Veränderungen des NPI-Index geschuldet. Die Differenz kann man als Unsinnigkeitsindex der Walachschen Berechnung interpretieren.
Walachs Erwartung, es müsse eine negative Korrelation geben, wenn die NPIs wirken würden, ist unabhängig von den oben kurz beschriebenen Validitätsfragen und der Länderauswahl auch sachlich derart voraussetzungsreich, dass sie mit einer bivariaten Korrelation schlicht nicht zu überprüfen ist. Wenn beispielsweise NPIs verhängt werden, wenn die Sterbezahlen hoch sind und der politische Druck groß, ist die Korrelation positiv, egal wie wirksam die NPIs sind. Walach allerdings schlussfolgert:
„Wir sehen also, dass der Versuch, die Infektion mit allen möglichen politischen Mitteln fernzuhalten, nicht zu einer Reduktion der Todesfälle führt. Vermutlich müsste man sehr gezielt, sehr lokal und fokussiert vorgehen, um wirklich Todesfälle zu verhindern, statt pauschale Maßnahmen zu treffen.“
Ob der erste Satz stimmt, sieht man eben nicht. Das geben seine Daten schlicht nicht her. Der zweite Satz stimmt möglicherweise, aber ob z.B. lokale Maßnahmen wirksam sind, oder unter welchen Bedingungen (die NoCovid-Strategie hat sie z.B. an niedrige Inzidenzen geknüpft), lässt sich aus seinen Daten genauso wenig ableiten. Dass er nicht sieht, dass sein Zahlenwerk grober Unfug ist, liegt sicher nicht an seiner methodischen Kompetenz, die hat er zweifellos. Was sein Rechenwerk nahelegt, ist, dass der confirmation bias ein psychologisch sehr starker Effekt ist, vor dem auch methodisch und psychologisch gut geschulte Menschen nicht gefeit sind. Harald Walach hat sich um die Psychologie des confirmation bias verdient gemacht.
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Zum Weiterlesen:
• David Klemperer: Corona verstehen. Living Book.
• Robert Koch-Institut, Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (Hg.): Über Prävention berichten – aber wie? Methodenprobleme der Präventionsberichterstattung. Berlin 2020.
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