Meine Güte, was haben sich die Wächter des politisch sensiblen Sprachgebrauchs gerade echauffiert. Fast hätte man glauben mögen, Stéphane Hessel habe Regie geführt: „Empört Euch!“ Es ist unübersehbar Wahlkampf, da steigt die Sturmgefahr im Wasserglas.

Was war der Anlass? Carolin Emcke hatte auf dem Parteitag der Grünen in einer Rede darauf hingewiesen, dass Klimaforscher und -innen, vor vielleicht auch vor allem die -innen, künftig vermehrt Gegenstand von Hassbotschaften sein werden:

“Die radikale Wissenschaftsfeindlichkeit, die zynische Ausbeutung sozialer Unsicherheit, die populistische Mobilisierung und die Bereitschaft zu Ressentiment und Gewalt werden bleiben. Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden. Und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen oder die Virologinnen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscherinnen.”

Aufgeschrien haben nicht die Jüdinnen und Kosmopolitinnen, sondern vor allem junge und alte weiße Männer. „Rednerin vergleicht Klimaforscher mit verfolgten Juden“, so die BILD-Zeitung, unbestechliche Vorkämpferin gegen Ressentiments und Wissenschaftsfeindlichkeit unter der geistigen Führung Julian Reichelts. Paul Ziemiak, CDU-Generalsekretär, erkannte eine “unglaubliche + geschichtsvergessene Entgleisung”. Da wird er seinem Duz-Freund Kevin Kühnert in der nächsten Talk-Show wieder was erklären müssen. Und Julia Klöckner, kein weißer Mann, aber so etwas Ähnliches, ausgerechnet sie, die vor einigen Jahren sprachlich wirklich danebengriff, als sie der (linken) griechischen Regierung attestierte, dass sie „nationalsozialistisch vorgehe“, sah hier den Missbrauch des Worts, der ihr damals entging: „Das Leid vieler verfolgter, ermordeter und ausgegrenzter Juden, Antisemitismus wird hier für das Klimathema genutzt, und Klimaforscher werden die Stigmatisierten sein?“ Harald Martenstein, bei solchen Themen immer dabei, erklärt mit frühermallinker Aufklärungsattitüde, worum es geht: „Wie Carolin Emcke die Juden benutzt“. Emcke „benutzt“ die Juden. Julian Reichelt findet das sicher geistreich.

Aber im Wasserglas ist meist nicht viel Wind, die Sache ist schon wieder vorbei. Den Klügeren unter den Empörten war sie vermutlich beim zweiten Nachdenken selbst zu blöd und die Meute in den Kommentarspalten hatte ja ihren Knochen. Die populistische Mobilisierung, von der Emcke sprach, hat funktioniert.

Ich frage mich, wer hat hier eigentlich „die Juden benutzt“ und wofür? Hoffentlich wirft man mir jetzt nicht vor, ich würde es tun und ich habe gar nicht das Recht, etwas dazu zu sagen, das sei kulturelle Aneignung auf Kosten der Holocaust-Opfer. Sicherheitshalber gleich vorneweg: Ich wollte nie Indianerhäuptling werden, ich war immer bei den Cowboys. Und ich entschuldige mich auch gleich bei Carolin Emcke, dass ich sie für einen Blogbeitrag über dummes Wahlkampfgerede benutzt habe.

Kommentare (21)

  1. #1 rolak
    15. Juni 2021

    So langsam kommts mir vor, als würde (wie wenn die BILD-Readaktion sich über schlechten Journalismus beschwert) des öfteren etwas anderweitiges, vorgeblich mindestens Gleichwertiges strohmännisch aufgeplustert, um vom eigenen tatsächlich Fehlerhafen abzulenken.

  2. #2 stone1
    15. Juni 2021

    Ist die Readaktion das Gegenstück zur Redaktion oder hast Du dich bereits von dummem Wahlkampfgerede einlullen lassen, lieber rolak? ; p
    Ich bin auch einer von den Cowboys, und on a steel horse I ride, in der Tat. ; )

  3. #3 Alisier
    15. Juni 2021

    Die Read-Aktion ist einfach etwas, das Du noch nicht kennst stone1.
    Es ist eine sehr effektive kleine Aktion einer erprobten Kampfgruppe innerhalb der BILD mit dem Schlachruf “Read, Glaub oder Stirb!”
    Ansonsten ist das hiesige Thema extremst heikel.

  4. #4 hwied
    15. Juni 2021

    Wer sich in den Sumpf begibt, darf sich nicht beklagen, wenn er danach die Hose in die Reinigung geben muss.

    Die Instrumentalisierung des Holocaust ist mit das Schlimmste und auch Dümmste was sich Journalisten erlauben.

    Uns fehlt eine “politische Kultur” die dieses “Volksverbrechen” als solches erkennt. Nur der Kalte Krieg hat verhindert, dass man Deutschland nach diesem Verbrechen unmittelbar zur Rechenschaft gezogen hat.
    Nach dieser Untat ist es klug, andere Opfer zu beklagen, diesmal die Klimaforscher.
    Ein Engländer hat einmal treffend bemerkt, “Entweder hängen uns die Deutschen am Hals oder sie liegen uns zu Füßen”
    Ein Zwischenstadium gibt es nicht.
    Joseph Kuhn
    als ob Sie es geahnt hätten “Hoffentlich wirft man mir jetzt nicht vor, ich würde es tun und ich habe gar nicht das Recht, etwas dazu zu sagen,”
    Danke für den Mut und das Feingefühl so ein brisantes Thema aufzugreifen.

  5. #5 stone1
    15. Juni 2021

    @Alisier

    extremst heikel

    Dann bist Du doch genau der Richtige, um das zu diskutieren. Sensible Zurückhaltung und ein kühler Kopf sind ja quasi deine Markenzeichen. Sorry, warte grad auf meinen Zug und flapse bloß rum. ; )

  6. #6 HardiK.
    15. Juni 2021

    stone1
    15. Juni 2021

    @Alisier

    Sensible Zurückhaltung und ein kühler Kopf sind ja quasi deine Markenzeichen.

    Zaunpfahl oder vollkommende Wirklichkeitsfremdheit?

    So im Kommentarbereich funktioniert sowas nicht ohne Emoticons oder PS-Ergänzung. Höchstens unter Freunden.

    Insofern:
    Wieso gibts für solche “Unsachlichkeiten” keine Zensur, wenn sie so wenig und missverständliche Aussagekraft hat?

  7. #7 Viktualia
    15. Juni 2021

    Naja, es wäre ja eigentlich tatsächlich mal Zeit dafür, nicht den Holocaust zu instrumentalisieren, sondern die dahinter stehende Angst zu betrachten.

    Die Nazis haben ein Feindbild präsentiert, damit erfolgreich das Volk beschäftigt
    und so ihr Ding durchgezogen.
    Da wäre es doch vielleicht langsam mal angebracht, den Begriff der damals benutzten Volksgruppe durch das Wörtchen “Feindbild” zu ersetzen, um die Aufmerksamkeit mehr auf das Geschehen zu fokussieren –
    und nicht auf die eigene Angst davor, vom “Volkszorn” überrannt zu werden, sollte sich heraus stellen, dass die immer noch so korrumpierbar sind, wie vor fast hundert Jahren.

    Dann könnte da stehen:

    “Die radikale Wissenschaftsfeindlichkeit, die zynische Ausbeutung sozialer Unsicherheit, die populistische Mobilisierung und die Bereitschaft zu Ressentiment und Gewalt werden bleiben. Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden.
    Und vermutlich werden es dann nicht die alten Feindbilder sein, die Ethnien, Geschlechter oder Forschende, vor denen gewarnt wird,
    sondern die Klimaschützer.

    Insofern habe ich bislang den Eindruck, dass “beide Seiten” da in dem Versuch gefangen sind, etwas “Unpassendes” zu nutzen;
    mehr so wie bei Nietzsche und dem Abgrund, der zurück schaut.

    Da würde ich mir wünschen, dass mehr über “Angst” und den daraus folgenden Drang, Dinge zu simplifizieren, gesprochen wird, grade auch, wenn es um “Klima” geht.

    Da könnte man Zwischenmenschlich nämlich tatsächlich mehr punkten, wenn klar ist, worum es überhaupt geht: dass wir alle Menschen sind und zusammen viel stärker.

    Ich denke, dass “Angst ein schlechter Ratgeber ist” dürfte allen klar sein.
    Aber zwischen “unite behind the science” und “habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen” ist halt schon noch ein gutes Stück Weg.
    Und dafür fehlt uns (noch) die Landkarte.

    Mir persönlich wäre es ehrlich gesagt schon lieber, an eine “Landkarte” zu glauben, als an einen Vermesser…
    (Oder zwischen “Osten” und “Westen” differenzieren zu können,
    statt mich für “rechts oder links” entscheiden zu müssen.)
    Dieser Punkt müsste noch ein wenig klarer werden, bevor “die Wissenschaft” aus dem Instrumentalisierungs-Karrussel aussteigen kann, denke ich.

  8. #8 stone1
    15. Juni 2021

    @HardiK.

    Höchstens unter Freunden

    Eben.

    ~~~

    @Viktualia

    Zu zeigen wäre erst mal, wie stark diese Wissenschaftsfeindlichkeit tatsächlich ist und ob sie ein relevantes Problem ist.
    Ich bin ja der Meinung, dass bei diesem und ähnlichen Themen einer kleinen, aber sehr lautstarken Minderheit mehr Beachtung geschenkt wird, als dieser zustünde.
    Eine Sau nach der anderen wird durch das (v.a. digitale) Dorf getrieben, dabei ist es nicht ganz einfach, die Proportionen im Auge zu behalten.

    Und mit dem pauschalisierenden Sammelbegriff “Klimaschützer” werde ich auch nicht glücklich.

    Aber was mach ich hier eigentlich, einen Krone-Beitrag (österr. Pendant zur BILD) würde ich ja auch nicht diskutieren, das ist eigentlich unter akzeptablem Niveau.

  9. #9 HerrXYZ
    15. Juni 2021

    Da will die Sprachpolizei – voran Bild, Klöckner und Co von der CDU – uns mal wieder vorschreiben, was wir sagen dürfen und was nicht. Denkverbote gleich inklusive. Nicht mit mir!
    Wenn mir (indirekt) jemand vorwirft, die Öffentlichkeit durch Desinformation und Ressentiments zu fragmentieren und populistische Empörung zu betreiben, dann ist es ja wohl noch erlaubt, darauf mit Desinformation und populistischer Empörung zu reagieren.

  10. #10 Mutant77
    15. Juni 2021

    Stark finde ich, wie genau man mittlerweile darauf achtet welche Attribute jemand hat, der Kritik äußert.

  11. #11 Viktualia
    15. Juni 2021

    @Stone1 –

    Ich bin ja der Meinung, dass bei diesem und ähnlichen Themen einer kleinen, aber sehr lautstarken Minderheit mehr Beachtung geschenkt wird, als dieser zustünde.

    Wenn ich den Blogbeitrag richtig deute, war die “Minderheit” in der Redaktion vollkommen ausreichend, um vom Inhalt der Aussage auf die Form des Vergleichs zu schwenken
    und “den Diskurs” mal wieder vom eigentlichen Thema abzulenken:
    dass wir möglicherweise mal ein wenig “Verzicht” üben sollten, damit die nächste Generation überhaupt noch was zum Üben hat.

    Und dass wir, hier sehe ich auch eine Parallele zum Seuchengeschehen, umso weniger “verzichten” müssten, je früher wir damit anfingen.
    (Ich persönlich verstehe unter “Verzicht” was anderes, darum die Ausführungszeichen. Ich leide wie ein Hund unter dem “Verzicht auf Nachhaltigkeit”, dem wir frönen.)

  12. #12 Vera
    15. Juni 2021

    kann Martenstein nicht für die Bild schreiben?

    Das dann eine zentrale Mülldeponie.

  13. #13 stone1
    15. Juni 2021

    @Viktualia

    Nah, ich denke der Blog ist eher als Kritik an den Methoden der BILD-Redaktion (und ähnlicher Medien), die entweder selbst Populismus betreiben oder sich vor einen populistischen Karren spannen lassen, aufzufassen. Das Klimaschutzthema ist hier nur der Aufhänger.

  14. #14 Bbr
    Niedersachsen
    15. Juni 2021

    Ich verstehe es einfach nicht. Man macht keine Vergleiche mit dem Holocaust, Hitler, Mengele, Judensternen. Das ist eine ganz einfache Regel. Wer nicht in der Lage ist, sie zu befolgen, der darf sich über das Ende seiner politischen Karriere auch nicht beklagen. Herta Däubler-Gmelin sollte allen eine Warnung sein.

  15. #15 rolak
    15. Juni 2021

    Readaktion das Gegenstück?

    Nee, eher ne Fortsetzung in der vorerst unabgeschlossenen Reihung Reaktion-Redaktion-Readaktion-··. //or built around a language
    Wahrscheinlich jedoch eine schräge Kombi aus freudscher Fehlleistung, unkoordinierten Fingerchen und noch nicht komplett hochgefahrener Kontrollwetware. Abgesehen davon ist Alisiers ‘Schlachruf’ auch nicht schlecht, mit ruhrpottsch ch==g zu zack+laut interpretierbar, vor allem aber ausbaufähig zu SchlauchRuf. Ischsachnua töröööö!

    haben ein Feindbild präsentiert

    Zuviel der Kreativität, hätten die nie hinbekommen – sie haben eher ein allseits präsentes Feindbild in offiziellen Status gesetzt. Aber immerhin eine schicke Kombi etabliert: die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung – die halten immer noch erschreckend Viele für ein reales Ding. Übrigens könntest Du Deine Alternativfassung noch weiter kürzen zu ‘nicht die alten Feindbilder sein, sondern die Klimaschützer. Macht dann die Synergie aus Schere im Kopf und Autoprokrustion etwas deutlicher: Inhalt und Verständlichkeit sind irgendwie noch da, doch in ihrer Deutlichkeit drastisch reduziert.
    Ins Extrem getrieben siehst Du es weiter unten mit “keine Vergleiche mit <beliebig lange Liste>. Das ist eine ganz einfache Regel”. Selbstverständlich sind Vergleiche von&mit was auch immer immer² möglich, sie sollten halt nur nicht hinken (tuts bei C.Emcke nicht: Juden werden aktuell&hierzuland diskriminiert, eine ‘Winzigkeit’, die all die WutReaktionär:innen nicht sahen sorry, nicht sehen wollten).

    ____________________________________
    ² ja, immer. Man kann entgegen anderlautendem Geschwafel sogar Äpfel mit Birnen vergleichen: letztere enthalten im Mittel nicht einmal halb so viel Vitamin C wie erstere.

  16. #16 Alisier
    15. Juni 2021

    Ich würde übrigens ganz gerne und lieber über die INSM-Anzeige mit Baerbock als Moses diskutieren.
    Das ist klarer, dreister und einfacher, aber dennoch im gleichen üblen Tümpel entstanden.
    https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-06/insm-annalena-baerbock-kampagne-antisemitismus-frauen

  17. #17 Viktualia
    15. Juni 2021

    @Moses – abgesehen davon, dass die 10 Gebote ja auch für Christen gelten und es so gesehen eine “neue Ebene des Antisemitismus” wäre (ist?), ist das Problem bei der Anzeige doch vor allem die Verrohung des Wahlkampfes.
    Diese Karte wurde einer Partei gegenüber bislang noch nicht gezogen; den Hinweis in deinem link, @Alisier, auf das Fehlen des Ostblocks zur “Zivilisierung” fand ich da recht treffend.

    Womit wir aber eigentlich wieder bei “Unite behind.. .” wären und dass das nun mal nicht reicht, langfristig.

    Bis sich Parteien (oder ihre Unterstützer) so was verkneifen, weil sie davon ausgehen müssen, dass der Schuss nach hinten losgeht, wird es wohl noch ein wenig dauern.

    Den Hinweis des Volksverpetzers darauf, dass da eigentlich nicht viel konkrete Verbote zusammen gekommen sind, lässt auch tief blicken: https://www.volksverpetzer.de/schwer-verpetzt/insm-propaganda/, immerhin hatten sie ja 10 Tafel zu füllen.

    Da geht bei anderen Kandidaten mehr: https://twitter.com/captainfutura/status/1404061474314727432/photo/1 (Triggerwarnung: Laschet als Moses.
    Und sicherheitshalber – Disclaimer: so ganz grundsätzlich respektiere ich die 10 Gebote. Obwohl “glauben” sicher was anders ist…)

    Mein Sinn für Humor wird zwar von dem Identitätspolitischen Teil angesprochen, aber es ist schon ziemlich widerlich, wer da Moral als Buhmann aufstellt.
    Ich finde es eher “Trumpesk” als gegen einen Glauben gerichtet.

  18. #19 rolak
    16. Juni 2021

    zurück

    Och nöö, kann der nicht im vorurteilsgerechten Schema bornierter fieser Möpp bleiben?
    Jetzt ist man ja glatt genötigt, ihm Respekt zu zollen (oder zentimetern) 😉

  19. #20 Stefan Zander
    Oberkirch
    17. Juni 2021

    “Insofern:
    Wieso gibts für solche “Unsachlichkeiten” keine Zensur, wenn sie so wenig und missverständliche Aussagekraft hat?”

    Weil Diskurs so nicht funktioniert ? Hast Du Argumente, bring Sie. Hast Du keine, dann lass es. Aber schrei nicht nach Zensur.

  20. #21 Uwe Lenhardt
    Berlin
    21. Juni 2021

    “Julia Klöckner, kein weißer Mann, aber so etwas Ähnliches” – Joseph, ich liebe Dich!