Man reibt sich die Augen, wie es gerade mit dem Ansehen von Annalena Baerbock bergab geht. Immer öfter liest man den Vergleich mit dem „Schulz-Zug“, der vor der letzten Bundestagswahl nach kurzer Fahrt irgendwo zwischen Würselen und Kohlscheid auf einer stillgelegten Bahnstrecke liegengeblieben ist.
Zwei Elemente der Geschichte sind augenfällig: Das erste Element ist, dass das Imperium nicht tatenlos zusieht, wenn eine grüne Kanzlerschaft droht, egal wie weichgespült sie daherkommt. Wenig verwunderlich daher die Kampagne gegen Baerbock, mit Fake News aller Art wie angeblichen Nacktfotos aus der Jugend, dem kindischen Gezerre darum, ob sie nun „Völkerrecht“ oder „Public International Law“ in England studiert hat, und teilweise wirklich übler Propaganda, wie der von der sog. „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, von der sich selbst Arbeitgebervertreter distanziert hatten.
Das zweite Element ist die unverständliche Unfähigkeit der Grünen, das Momentum der zeitweise bestehenden Wechselbereitschaft zu nutzen und den Wahlkampf inhaltlich zu führen, obwohl die Wahlprogramme der künftigen Regierungspartner Union und FDP Munition ohne Ende liefern: Selten konnte man derart unausgegorene Positionen lesen, mit vielen Wahlversprechen ohne Finanzierung, Modernisierungspropaganda nach 16 Jahren modernisierungsabstinenter Unionspolitik, gleichzeitig klarer Positionierung zugunsten eines Weiter-So mit „Entfesselung“ der Wirtschaft, als ob damit die Wende in der Klimapolitik oder eine Korrektur der neoliberalen Verwerfungen des sozialen Gefüges zu bewerkstelligen wäre. Wesentliche gesellschaftliche Reformfragen, von der Pflege über die prekäre Beschäftigung bis hin zum Wohnungsmarkt und zum Klimawandel, werden von Union und FDP nicht glaubwürdig beantwortet. Die Grünen haben bisher daraus nichts gemacht. Dabei haben sie sogar ein Konzept für den Spagat zwischen Reform und Erhalt der wirtschaftlichen Leistungskraft: die Idee eines „Paktes mit der Wirtschaft“ mit langfristigen Stabilisierungsverträgen. Stattdessen verteidigen sie Baerbock und ihr überflüssiges Buch mit den überflüssigerweise abgeschriebenen Stellen. So signalisiert man nicht Regierungsfähigkeit.
Auf ein weiteres, vielleicht das wichtigste, Element der Geschichte weist Albrecht von Lucke im Editorial der Juli-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik hin – nämlich uns:
„Das grüne Dilemma: Eine Mehrheit der Bevölkerung lebt im Jahr 2021 noch immer weit stärker in den Konsumansprüchen der Gegenwart als im Bewusstsein der ökologischen Probleme. Man kann fast von einer Schizophrenie sprechen: Obwohl wir im neuerlichen Hitze-Sommer die Auswirkungen der Klimakrise dramatisch erleben, sträubt sich die Mehrheit konsequent dagegen, die notwendigen Veränderungen auch nur zu realisieren. Und die Laschet-Union bedient genau diese Schizophrenie, wenn sie einerseits wirksamen Klimaschutz verspricht, aber andererseits auch weiteres Wirtschaftswachstum und ein Festhalten an der schwarzen Null. (…) Allen wohl und niemand weh – und Klimaschutz darf nichts kosten.“
Nicht, dass schon allein dadurch alles besser würde, wenn wir mehrheitlich wirklich eine neue Politik wollten, das Imperium verteidigt seine Pfründe auch gegen Mehrheiten. Aber wenn wir nicht einmal wollen, wird sich ganz gewiss nicht genug ändern. Das lässt für die ökologische, soziale und wirtschaftliche Modernisierung Deutschlands wenig Hoffnung aufkommen, egal wer regiert.
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