Der folgende Text ist ein Gastbeitrag des Bremer Zahnarztes Dr. Hans-Werner Bertelsen, der auf Scienceblogs schon mehrere Gastbeiträge veröffentlicht hat. Diesmal kommentiert er die Risikolage bei Amalgamfüllungen für junge Frauen und die Embryonalentwicklung.

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Amalgam

Dr. Hans-Werner Bertelsen

Veronika Hackenbroch berichtete 2019 im SPIEGEL über Cluster von Fällen, in denen Kinder mit schweren Missbildungen zur Welt kamen. Die einzige Gemeinsamkeit, die man an der Uni-Kinderklinik Mainz durch intensive Befragungen der Mütter ausmachen konnte, waren Zahnarztbesuche während der Schwangerschaft. In der Frühschwangerschaft ist die Leibesfrucht gegenüber exogenen Reizen besonders empfindlich. Man spricht von diesem Zeitraum daher auch von der „teratogenetischen Determinationsperiode“ (Koberg).

Hinzu kommt: Die Datenlage zur Maximalen Arbeitsplatz Konzentration von Quecksilber ist veraltet – sie beruht auf Material, welches teilweise vor 50 Jahren ermittelt worden ist. Mittlerweile hat sich besonders im Bereich der Messtechnik und Analytik sehr viel entwickelt. Leider wurde diese Entwicklung bis dato nicht genutzt, um aussagekräftige Zahlen zur Quecksilber-Dampf-Belastung beim Herausbohren alter Füllungen oder beim Aufbohren eines mit Quecksilber-Amalgam gefüllten Zahnes zur akuten Schmerzbehandlung zu ermitteln. Neben dem Patientenschutz steht daher auch der Arbeitsschutz bei der Bearbeitung vorhandener Quecksilber-Amalgam-Füllungen im Fokus. Es ist auch vielen Mitarbeiterinnen in den Praxen nicht verborgen geblieben, dass es durch Quecksilber-Amalgam zu erheblichen Risiken für das ungeborene Leben kommen kann. So berichtete eine Studie aus Norwegen von einer erhöhten perinatalen Mortalität im Zusammenhang mit hoher Anzahl von Quecksilber-Amalgam-Füllungen.

Für ein sofortiges Verbot von giftigem Quecksilber-Amalgam plädiert auch Sylvia Gabel: „Beim Arbeiten mit Amalgam in der Praxis wird Quecksilberdampf freigesetzt. Da 99 Prozent der zahnmedizinischen Fachangestellten in Deutschland weiblich sind und Quecksilber sowohl schädlich für die Fruchtbarkeit als auch das ungeborene Kind ist, sind wir einem besonderen Risiko ausgesetzt.“

Bereits 2006 wiesen Forscher in Norwegen eine erhebliche Erhöhung der Quecksilber-Konzentration im Blut nach Ausbohren von Füllungen nach. (4) Solche Peaks, die durch Inhalation entstehen, sind nach einhelliger Meinung von Toxikologen extrem schädlich und können in der Frühschwangerschaft durchaus eine teratogenetische Wirkung entfalten (Prof. Eschenhagen, Toxikologie Hamburg-Eppendorf in einer persönlichen Mitteilung vom 23.1.2020).

Als Konsequenz lautet meine Forderung: Solange wir nicht wissen, wie hoch die Quecksilber-Dampf-Konzentrationen sind, solange wir hier „im Dunkeln tappen“, sollte, um ein Missbildungsrisiko auszuschließen (siehe auch den SPIEGEL-Bericht von Veronika Hackenbroch) aus ethischen Gründen bei Frauen im gebärfähigen Alter sowohl auf ein Herausbohren quecksilberhaltiger Füllungen als auch auf Trepanationsbohrungen verzichtet werden.

Ein sofortiges Anwendungsverbot von Quecksilber-Amalgam wäre nicht nur im Hinblick auf toxische Belastungen von TumorpatientInnen von Vorteil, weil im sogenannten „Alternativmedizin“-Bereich oftmals zu teuren, überflüssigen und in der Folge auch sehr schädlichen „Detox“-Behandlungen aufgerufen wird. Auch könnte ein sofortiges Anwendungsverbot die Zufriedenheit der MitarbeiterInnen in den Praxen erheblich steigern. Laut Sylvia Gabel würde über „Streikmaßnahmen in den verbliebenen Anwenderpraxen nachgedacht“ (Syvia Gabel in einer persönlichen Mitteilung v. 18.6.21).

Kommentare (14)

  1. #1 noch'n Flo
    Schoggiland
    6. Juli 2021

    Aber bereits vorhandene Amalgam-Füllungen sollte man am besten dort belassen, wo sie sind – verstehe ich das so richtig? Also jetzt mal aus Patient*innensicht?

  2. #2 Alisier
    6. Juli 2021

    @ Hans-Werner Bertelsen
    Danke für die Informationen und Überlegungen.
    Bis jetzt habe ich das Risiko von Amalgamfüllungen für überschaubar gehalten. Da werde ich dann wohl eine Korrektur vornehmen müssen.

  3. #3 Ludger
    6. Juli 2021

    Das Risiko für den Amalgam-Träger scheint überschaubar zu sein (hat mir vor Jahren mein Zahnarzt erklärt). Die höchsten Quecksilberbelastungen kommen seiner Meinung nach durch das Herausfräsen der betreffenden Füllung zustande. Ein Problem ist wohl, wie oben beschrieben, die Quecksilberbelastung des Personals.
    Zu den Schwangeren:
    Schwangeren Patientinnen wird empfohlen, auf neue Amalgamfüllungen zu verzichten und alte möglichst bis nach der Stillzeit zu belassen.
    Schwangere Zahnarzthelferinnen bekommen wahrscheinlich immer noch ein Beschäftigungsverbot nach dem Mutterschutzgesetz. Zu meiner aktiven Zeit (bis Ende 2015) war das jedenfalls so. Zuständig war das Amt für Arbeitsschutz. Meines Erachtens war das nicht nur durch die Quecksilberbelastung begründet sondern auch durch die Belastung mit Karies-Feinstaub und Bakterien-Aerosolen.

  4. #4 hwied
    6. Juli 2021

    Schon vor 50 Jahren war die Giftigkeit von Quecksilber bekannt. Wer es sich damals leisten konnte , ließ sich eine Goldfüllung machen.
    Ein Trauerspiel für die Gesundheitsvorsorge, dass man Amalganfüllungen überhaupt noch erlaubt.

  5. #5 Hans-Werner Bertelsen
    Bremen
    6. Juli 2021

    #Ludger
    Empfehlungen hin oder her:
    Wenn eine Frau in der 6. SSW Zahnschmerzen bekommt und der schmerzende Zahn mit Amalgam versorgt wurde, kann das bei der Trepanation (Aufbohren) zu einer Freisetzung von Hg-Dämpfen führen. Neben einem sofortigen Anwendungsstop brauchen wir dringend Daten, wie hoch die tatsächliche Hg-Belastung bei der Bearbeitung von Altlasten ist.

    Skandinavien, Russland und andere Länder haben Quecksilber-Amalgam nicht grundlos verboten.

    #noch ´n Flo
    Belassen. Solange die Korrosion des Amalgams den Zahn nicht schädigt (Wegsprengen der Außenwand), belassen.

  6. #6 Beobachter
    6. Juli 2021

    @ Hans-Werner Bertelsen:

    Was halten Sie hiervon?:

    http://www.shv-umweltgeschaedigte.de/umweltpolitik/427-bonner-amalgam-erkl%C3%A4rung-mai-2021.html

    (aus der Website des VHUE e. V., nur der Vereinsname ist seit 2019 geändert)

  7. #7 uwe hauptschueler
    6. Juli 2021

    brauchen wir dringend Daten, wie hoch die tatsächliche Hg-Belastung bei der Bearbeitung von Altlasten ist.

    Skandinavien, Russland und andere Länder haben Quecksilber-Amalgam nicht grundlos verboten.

    Warum werden nicht die Daten von Skandinavien, Russland und anderen Länder genommen? Sind die geheim? Oder gibt es keine?

  8. #8 zimtspinne
    6. Juli 2021

    Danke, war informativ.

    Was mich interessieren würde:
    Gibts auch eine Häufung von Fehlgeburten in Zusammenhang mit Zahnarztbesuche/Amalgamfüllungen-Aufbröseln?
    Oder kann das gar nicht ausgemacht werden, vor allem natürlich auch bei Fehlgeburten vor Identifizierung der Schwangerschaft.

    Ich frage mich ja auch, wenn das Zeug zu Missbildungen bei Babys führen kann, ist es für nichtschwangere Personen völlig unbedenklich?
    Oder aber, wird die Fruchtbarkeit der Männer auch beeinflusst, es soll ja auch männliche Zahnärzte geben?
    Spielt die Expositionshäufigkeit eine Rolle auch bei unschwangeren Patienten?
    Eine zeitlang wurden bei mir alle naselang gefüllte Zähne wieder aufgebohrt, weil die Füllung halb oder ganz herausgebrochen war (was vermutlich auch an meiner grottigen Ernährung lag und besonders zahnfüllungsattackierende Süßigkeiten).
    Bin mir aber gerade auch nicht sicher, ob das überhaupt noch Amalgamfüllungen waren oder andere.
    Die sind aber auch nicht wirklich alle unbedenklich:
    https://www.quarks.de/gesundheit/medizin/darum-wird-amalgam-wirklich-verboten/

  9. #9 Hans-Werner Bertelsen
    Bremen
    7. Juli 2021

    @Beobachter Danke für den link! Die hier erwähnten Informationen decken sich weitgehend mit dem von mir unter “Sylvia Gabel” verlinkten Artikel aus der “DZW” – einer zahnärztlichen Fachzeitschrift.

    @Uwe Hauptschüler Messungen mit moderner Analytik, die zeigen, wie hoch die tatsächlichen Hg-Emissionen, z.B. bei Füllungsaustausch sind, sollten wir an unseren Unis doch sehr leicht realisiert bekommen.

    @Zimtspinne Hervorragender Beitrag! Er lenkt auf die wichtige Frage: Warum gibt es in Deutschland im Jahre 2021 noch immer kein Missbildungsregister?
    Mit einem Missbildungsregister könnten Cluster aufgespürt und Korrelationen aufgedeckt werden. Beispielsweise: Kommt es zu einer regionalen Häufung von Mund- Kiefer- Gaumenspalten? (Teratogenetische Determination 5.-7. SSW) Die Spermatogenese wird durch Hg nachweislich negativ beeinflusst.

    Wichtig ist mir, dass sich ein Bewusstsein für die enormen Gefahren für ein ungeborenes Leben entwickeln, die sich z.B. aus einer lapidaren, routinemäßigen Schmerzbehandlung ergeben können.

    Daher nochmal ein großes “Dankeschön” an Joseph Kuhn, dass wir hir diskutieren können.

  10. #10 aristius fuscus
    8. Juli 2021

    Zum Thema Messung der Hg-Exposition: das ist insofern nicht so ganz einfach, weil ja nicht nur ein Amalgam Verwendung findet. Soweit ich das überblicke, sind die meisten im Dentalbereich eingesetzten Amalgame Hg/Ag-Legierungen mit unterschiedlichen Zusammensetzungen, wobei die Zusammensetzung sicher einen Einfluss auf die Hg-Freisetzung hat. Dennoch gibt es offenbar solche Untersuchungen: dieser Materialienband des RKI zum Thema (https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/UmweltKommission/Archiv/Amalgam_Materialienband.pdf?__blob=publicationFile) listet im Anhang auch eine Publikation (Marek 1990) dazu auf. Leider ist diese Publikation für normal Sterbliche nicht online einsehbar.

  11. #11 Hans-Werner Bertelsen
    Bremen
    8. Juli 2021

    Danke für den informativen link!

    Hieraus auf S. 14:

    “Quecksilberdampf aus Amalgamfüllungen passiert die Plazentaschranke und kann in den fötalen Blutkreislauf gelangen. Bei schwedischen Frauen (n=119) wurde eine Korrelation zwischen der Zahl der Amalgamfüllungen und dem Gehalt an anorganischem Quecksilber in der Plazenta nachgewiesen (Ask et al. 2002). Die Konzentration in der Plazenta lag um etwa das Dreifache höher als im mütterlichen Blut.”

  12. #12 Tobias
    Berlin
    10. Juli 2021

    > “Ein Trauerspiel für die Gesundheitsvorsorge, dass man Amalganfüllungen überhaupt noch erlaubt.”

    Naja, solch eine gut gemachte Amalgamfüllung* hat schon ihre Vorteile, nämlich ihre Haltbarkeit:

    Also Jugendlicher in den 70-er Jahren wurden mir, wie damals üblich, recht großzügig Amalgam-Füllungen verpasst. Diese halten allesamt bis heute – kein einziger Ersatz oder Nacharbeit war bisher notwendig. Also nun gut schon 50 Jahre!

    Im Übrigen habe ich gehört – man möge mich korrigieren, wenn das falsch ist – dass die größte Giftigkeit bei Quecksilber von den Dämpfen ausgeht – einem Problembereich, der bei Amalgam-Füllungen nicht besteht. Zudem sich auch nicht viel Quecksilber aufzulösen scheint, wenn meine kleinen Füllungen schon dermaßen lange halten.

    * Sauberes Ausbohren, sodass keine Keime mehr unterhalb der Füllung verblieben, Unterfüllung, sorgfältig gesetzte Füllung mit Formung plus Polieren.

    Also, wenn ich heute noch einen Zahnarzt finden könnte, der noch handwerklich einwandfreie Amalgamfüllungen machen kann, würdie ich dafür sogar einen Privat-Patienten Preis und mehr dafür bezahlen. Diese UV-Licht-Füllungen scheinen mir nicht auf Dauer ausgelegt zu sein, und bei meinen Bekannten, die ihre Amalgam-Plomben durch Gold-Inlays ersetzen ließen, sind diese zum Teil schon lange wieder ausgefallen…

  13. #13 Hans-Werner Bertelsen
    Bremen
    16. Oktober 2023

    Die im Text erwähnten Messungen habe ich zusammen mit Prof. Garbrecht (HAW Hamburg) durchgeführt.
    Die ermittelten Werte für die Konzentrationen von Hg-Dämpfen sind sehr hoch. Publikation folgt. Vorab ein short-cut:

    https://publikum.net/sehr-hohe-emissionen-von-quecksilberdampfen-bei-der-bearbeitung-oder-entfernung-von-amalgam/

  14. #14 uwe hauptschueler
    16. Oktober 2023

    @#13Hans-Werner Bertelsen
    Ihre Versuchsanordnung spiegelt höchwahrscheinlich nicht die Gegebenheiten in Ihrer Praxis wieder.
    In der Mundhöhle findet durchs Atmen ein ständiger Luftaustausch statt. Es wären für eine Beurteilung mindestens zwei Meßorte erforderlich:
    A) Die Mundhöhle um die Beaufschlagung des Patienten abschätzen zu können
    B) Eine Stelle in der Nähe von Mund und Nase des Personals um zu erfahren was dort noch ankommt
    Der MAK-Wert ist für eine Expostion von 8h täglich bei einer Fünftagewoche konzipiert. Das sind keine Zeiten mit der bei Zahnbehandlung zu rechnen ist.
    Bei den von Ihnen gemessenen Werten würden Praxen möglicherweise die Kriterien für eine Altlastverdachtsfläche erfüllen.