Vor vier Wochen gab das Statistische Bundesamt vorläufige Daten der Todesursachenstatistik für das Jahr 2020 bekannt. Worauf alle gewartet hatten, waren die Covid-19-Sterbefälle, weil man sehen wollte, ob die Daten der Todesursachenstatistik in relevantem Maße von den ans Robert Koch-Institut gemeldeten Corona-Sterbefällen abweichen. Aufgrund der etwas unterschiedlichen Dokumentationsvorgaben gibt es zwar Differenzen, aber die Daten stimmen recht gut überein, wenn man vergleichbare Fallgruppen bildet.
Eine andere Zahl ging in den Medien unter. Das Statistische Bundesamt wies für 2020 in Deutschland 8.565 Suizide aus, so wenig wie noch nie in der Bundesrepublik. Dass die Coronakrise sich hierzulande noch nicht auf die Suizide ausgewirkt hat, war bereits aus Daten der Polizei bekannt. Bei unnatürlicher oder unklarer Todesursache muss die Polizei hinzugezogen werden, daher hat man hier eine zweite Datenquelle. Vermutlich haben die wirtschaftlichen Hilfen für Unternehmen und Beschäftigte in Deutschland dazu beigetragen, die Zahl der Suizide vorerst nicht ansteigen zu lassen. Wie es künftig weitergeht, bleibt abzuwarten, in der Vergangenheit haben Krisen, der Anomiethese von Durkheim folgend, häufig die Suizidraten ansteigen lassen.
Dass Suizid nicht einfach romantisierend mit „Freitod“ gleichgesetzt werden kann, mit Nietzsches selbstgewähltem „Sterben zur richtigen Zeit“, ist unstrittig. Nicht nur soziale Faktoren wirken im Hintergrund, bei vielen Suiziden spielt auch die individuelle gesundheitliche Situation eine ausschlaggebende Rolle, schwere körperliche Erkrankungen ebenso wie psychische Störungen.
In diesem Zusammenhang gab es 2020 ebenfalls ein besonderes Ereignis: Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 das bis dahin bestehende Verbot der „geschäftsmäßigen“ Sterbehilfe in § 217 Abs. 1 StGB aufgehoben. Das Adjektiv „geschäftsmäßig“ war dabei so gemeint, dass eine auf Wiederholung angelegte Sterbehilfe, z.B. durch Ärzte, verboten war. Spektakulärer ist aber die Betonung der Autonomie der Menschen durch das Bundesverfassungsgericht:
„Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“
Das Gericht betont allerdings zugleich den hohen verfassungsrechtlichen Rang des Lebens. Letztlich stärkt das Urteil auch die Verpflichtung der Gesellschaft zur Suizidprävention sowie zu einer Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung. Hier ist zwar in den letzten Jahren einiges geschehen, aber dass die Gesellschaft ausreichend darin investiert, das Lebensende menschenwürdig zu gestalten, wird angesichts der Vereinsamung alter Menschen, vielfach niedrigen und zum Leben nicht ausreichender Renten, Pflegenotstand und auch nach wie vor zu wenig Angeboten der Hospiz- und Palliativversorgung niemand behaupten wollen. Im Kapitalismus sind neue Autos wichtiger. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ferdinand von Schirach hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in seinem Theaterstück „Gott“ aufgegriffen. Er stellt dort die Frage, wem das Leben eines Menschen gehört und inszeniert zum Fall des sterbewilligen Richard Gärtner, der völlig gesund ist, aber nicht mehr leben will, eine Sitzung des Deutschen Ethikrats. Gegen den Sterbewillen Gärtners werden die Position der Ärzteschaft zur Sprache gebracht, die die Verpflichtung von Ärzten im Schutz des Lebens sieht, sowie die Position der Kirche, die das Leben als Geschenk Gottes betrachtet, über das der Mensch nicht frei verfügen darf. Die Luchterhand-Buchveröffentlichung des Theaterstücks wird durch drei Aufsätze abgeschlossen: der Sozialethiker Hartmut Kreß, die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert und der Jurist Henning Rosenau beleuchten ethisch-rechtliche Aspekte des Themas. Von Schirach hat interessanterweise auf einen Beitrag aus psychiatrischer Sicht verzichtet, vielleicht, weil er die Frage nach dem individuellen Recht auf Suizid in den Mittelpunkt stellen wollte. Dieses Recht gilt auch für kranke Menschen.
Historisch die höchste Zahl an Suiziden in Deutschland gab es übrigens 1937 mit 19.614. Nach dem ersten Weltkrieg hat sich die Zahl der Suizide von gut 10.000 im Jahr 1918 auf fast 20.000 Ende der 1930er Jahre verdoppelt, ein Anstieg weit stärker als die Zunahme der Bevölkerung (GESIS Datenarchiv, Köln. Histat). Die Zwischenkriegszeit war eine Zeit gesellschaftlicher Anomie, um noch einmal den Begriff Durkheims aufzugreifen, und eine Zeit, in es so gut wie keine psychiatrische Krisenhilfe und schon gar keine Hospiz- und Palliativversorgung gab.
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Hilfe bei Suizidgedanken: Es gibt in Deutschland inzwischen in viele Regionen psychiatrische Krisendienste und überall und rund um die Uhr das Angebot der Telefonseelsorge: 0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111 0 222 oder 116 123.
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