Die Frage, welche Auswirkungen die Coronakrise auf die Suizidzahlen hat, weltweit und hier bei uns in Deutschland, wird immer wieder einmal aufgeworfen. Auch auf Gesundheits-Check war sie bereits mehrfach Thema. Erfahrungen mit früheren Krisen legen nahe, dass die damit einhergehenden psychischen Belastungen und zumindest zeitweisen Einschränkungen von Hilfsangeboten sich früher oder später auch in den Suizidzahlen niederschlagen. In einigen Ländern haben die Suizidzahlen 2020 bereits zugenommen.

In Deutschland gibt es Berichte über vermehrte Krisenfälle mit suizidalen Handlungen, aber die Suizide selbst sind 2020 nicht gestiegen. Vorläufige Daten der amtlichen Statistik ließen sogar erwarten, dass 2020 das Jahr mit den niedrigsten Suizidzahlen überhaupt sein könnte. Nach den endgültigen Daten war es dann das Jahr mit den zweitniedrigsten Zahlen. 9.206 Suizide wurden in der Todesursachenstatistik dokumentiert.

Das Statistische Bundesamt hat vor kurzem für die Jahre 2010 bis 2020 die Daten nach Kalendermonaten veröffentlicht. Nimmt man, ähnlich wie bei der gängigen Bestimmung der Übersterblichkeit, einen Vergleich der Fälle 2020 mit dem Durchschnitt der Jahre 2016-2019 als einer groben Baseline vor, so zeigt sich zum einen, dass die Differenz 2020 zum Durchschnitt 2016-2019 erheblichen Schwankungen unterliegt. Zum anderen sieht man, dass dabei die Monate März und April sowie Dezember am stärksten unter dem Durchschnitt der Vorjahre liegen. Das sind interessanterweise die Monate mit den etwas einschneidenderen Kontaktbeschränkungen in Deutschland. Auch wenn man als Baseline die Jahre 2010 bis 2019 nimmt, sind die genannten Monate bei insgesamt stärkeren Rückgängen auffällig.

Man hat natürlich schnell Hypothesen im Kopf, wie die Kontaktbeschränkungen zu einer Verringerung der Suizide geführt haben könnten. Aber wenn in diesen Monaten höhere Suizidzahlen zu beobachten gewesen wären, würden einem genauso schnell einleuchtende Gründe dafür einfallen. Und verlangt nicht auch der Februar nach einer Erklärung? Insofern: Vielleicht ist es nur Zufall. Es wäre interessant, wie das in anderen Ländern aussieht, bei denen es Kontaktbeschränkungen zu anderen Zeiten gab. Oder welche Daten man noch heranziehen könnte, um dem Zufall auf den Zahn zu fühlen. Die Gefahr kaffeesatzlesender Storchenstatistik ist bei solchen Dingen jedenfalls groß.

Kommentare (10)

  1. #1 BPR
    15. Dezember 2021

    2013 erschien eine 54 Länder vergleichende Auswertung zu Suiziden im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise 2008/09/10 (Chang et al. Impact of 2008 global economic crisis on suicide: time trend study in 54 countries): “After the 2008 economic crisis, rates of suicide increased in the European and American countries studied, particularly in men and in countries with higher levels of job loss.”
    Danach könnten die Maßnahmen zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes Schlimmeres verhütet haben. Eine Senkung der Suizidrate wäre damit nicht erklärt.

  2. #2 Titus von Unhold
    16. Dezember 2021

    “Es wäre interessant, wie das in anderen Ländern aussieht, bei denen es Kontaktbeschränkungen zu anderen Zeiten gab.”

    Kein Problem:

    “In den ersten Monaten der Covid-19-Pandemie ist die Zahl der Selbsttötungen in Deutschland und einigen anderen Industrieländern nicht gestiegen. Dies zeigt eine Auswertung von Forschern der University of Melbourne, in die offizielle Suizidfälle aus 21 Industrie- und Schwellenländern eingeflossen sind.”

    https://www.spektrum.de/news/suizidalitaet-nehmen-selbsttoetungsversuche-in-der-pandemie-zu/1860199

    • #3 Joseph Kuhn
      16. Dezember 2021

      @ Titus:

      Verstehe nicht. Gefragt ist der monatsscharfe Bezug zu Lockdownzeiten, keine pauschale Aussage über 2020, das erste Halbjahr oder dergleichen.

  3. #4 Andreas Reif
    Frankfurt am Main
    16. Dezember 2021

    Hier die Primärpublikation: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33862016/. Wie man es dreht und wendet, es kam im Gefolge der Pandemie bzw. der Lockdown-Maßnahmen nicht zu einer Zunahme von Suiziden.

    • #5 Joseph Kuhn
      16. Dezember 2021

      @ Andreas Reif:

      Wie gesagt, das war nicht die Frage. Und man muss auf der internationalen Bühne mit unterschiedlichen Entwicklungen rechnen. In Japan gab es beispielsweise einen auch gut zu erklärenden Anstieg.

  4. #6 schorsch
    16. Dezember 2021

    Ich halte die Statistik in dieser Form für Spökenkiekerei. Wenn ich nicht nur die Differenz 2020 zu 2016:2019 betrachte, sondern für jedes einzelne Jahr die Differenz zu den jeweils andren vier Jahren, dann ergibt sich für die Jahre 2017 und 2018 ein ähnlich volatiles Bild wie für 2020.

    Ein sehr stabiles Bild ergibt sich für 2016 (in jedem Monat über dem Schnitt) und 2019 (von Jan. bis Okt. in jedem Monat unter dem Schnitt, Nov. und Dez. dann drüber).

    Der Versuch, über den Vergleich mit anderen Ländern mit andren Lockdowndaten zu aussagekräftigeren Daten zu kommen, dürfte, so fürchte ich, typisch anthroposophischen Bestimmungsverfahren (z. B. Biokristallisation) sehr ähnlich werden. Dafür gibt es in anderen Ländern einfach zu viele andere Rahmenbedingungen, die sehr schwer herauszurechnen sein dürften.

    Solche Statistiken würde ich H. Walach und andern Eseln überlassen, die können daraus gewiss noch Kuchen backen.

    • #7 Joseph Kuhn
      16. Dezember 2021

      @ schorsch:

      “Ich halte die Statistik in dieser Form für Spökenkiekerei.”

      Ich neige auch mehr und mehr dazu, aber ein interessantes Diskussionsthema ist es trotzdem.

      “Solche Statistiken würde ich H. Walach und andern Eseln überlassen”

      Nein, die Interpretation von Daten der amtlichen Statistik sollte man nicht den Eseln überlassen.

  5. #8 Michael Minski
    18. Dezember 2021

    Lieber Herr Kuhn,

    eventuell verstehe ich Sie falsch.
    Dass in Not- und Krisenzeiten seelische Probleme vermehrt auftreten, ist kein Geheimnis, wie Sie selber erwähnten. So hat die Zahl psychiatrisch erkrankter Jugendlicher während der Coronapandemie zugenommen. Auf das Jahr bezogen vermehrt Suizide ist für mich gut erklärbar, auch wenn die Aufschlüsselung nach Monaten etwas verwundert, ich jedoch nicht weiß, ob man dieser eine Rolle zuspielen sollte.

    Ich denke, es sollte für alle eher eine Herausforderung sein, psychisch Kranke nicht zu stigmatisieren und alle möglichen Maßnahmen zur Suizidprävention auszubauen ( sowie die psychiatrische Versorgung sowieso. Mir ist klar, dass sich das leichter schreibt, als real umzusetzen).

  6. #9 schorsch
    18. Dezember 2021

    Nein, die Interpretation von Daten der amtlichen Statistik sollte man nicht den Eseln überlassen

    ” – ist auch wieder wahr. Schade, ich hatte mich schon auf den Kuchen gefreut…

  7. #10 Joseph Kuhn
    18. Dezember 2021

    @ Michael Minski:

    “eventuell verstehe ich Sie falsch”

    Das kommt darauf an, wie Sie mich verstanden haben.

    Was Sie sagen, kann ich jedenfalls nur unterschreiben. Falls Sie das Thema an sich interessiert, unabhängig von den Monatsdaten (die vermutlich nur Storchenstatistik hergeben): Die Januarausgabe 2022 des Bundesgesundheitsblatts hat den Schwerpunkt Suizide, einzelne Artikel sind schon online first abrufbar.